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Tarifarchiv - Analysen Tarifarchiv

Tarifrunde 2012: Öffentlicher Dienst

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes(1) bemühen sich seit Jahren darum, den vor allem seit 2005 entstandenen Rückstand gegenüber der durchschnittlichen Tarifentwicklung in den anderen Wirtschaftsbereichen wieder wettzumachen. Dies gelingt in unterschiedlichem Maße und gestaltet sich wegen der problematischen Lage der öffentlichen Finanzen, namentlich im Bereich der Gemeinden, als sehr schwierig.

Verhandelt wird seit Jahren getrennt für die Bereiche Bund und Gemeinden bzw. für die Länder. In diesem Jahr stand der Tarifbereich Bund und Gemeinden im Tarifkalender. Der Tarifvertrag lief Ende Februar 2012 aus. Der letzte Abschluss für diesen Bereich war mit einer Laufzeit von 26 Monaten im Februar 2010 vereinbart worden und umfasste eine Tarifanhebung in drei Stufen: 1,2 % ab Januar 2010, weitere 0,6 % ab Januar 2011 und 0,5 % ab August 2011. Für die Länder hat es den letzten Abschluss im März 2011 gegeben, der bei einer Laufzeit von 24 Monaten u. a. eine Pauschalzahlung sowie eine Tarifanhebung in zwei Schritten von 1,5 % und 1,9 % und anschließend 17 € vorsah.

Die Tarifrunde war in diesem Jahr relativ kurz: Die Tarifparteien benötigten lediglich vier Wochen und drei Verhandlungsrunden, um zu einem Ergebnis zu kommen. Die Schlichtung wurde, anders als in vielen Runden zuvor, nicht angerufen. Dies hing zweifelsohne mit dem erheblichen Druck zusammen, den die Gewerkschaften durch die umfangreichen Warnstreiks entfalteten.

Nach einer intensiven Vordiskussion beschloss die Bundestarifkommission von ver.di am 9.2.2012 folgenden Forderungskatalog:

  • Erhöhung der Tarifentgelte im Bereich des TVöD und des TV-N (Nahverkehr) um 6,5 %, mindestens aber 200 € im Monat; im Bereich des TV-V (Versorgungsbetriebe) Anhebung um 7,9 %
  • Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 100 €
  • Laufzeit von 12 Monaten
  • unbefristete Übernahme der Auszubildenden nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung im erlernten Beruf
  • Flughäfen: Zulage in Höhe von 90 € monatlich zum Ausgleich von Belastungen durch Safety und Security
  • zusätzliche Forderungen für die Bereiche Theater und Bühnen sowie Sparkassen

Die zentrale Begründung der Forderungen von ver.di stand unter dem Motto „Du bist es wert“ und griff damit den Grundtenor der diesjährigen tarifpolitischen Debatte auf, dass nach Jahren der Zurückhaltung die Beschäftigten nunmehr Anspruch auf faire Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung hätten. ver.di und die anderen Gewerkschaften postulierten einen Nachholbedarf gegenüber der Privatwirtschaft, ein Abschlag für den öffentlichen Dienst sei nicht gerechtfertigt. Deutliche Entgeltsteigerungen seien auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft. ver.di-Vorsitzender Bsirske konstatierte für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einen Reallohnverlust im Jahr 2011 von 0,6 % und damit einen weiter vergrößerten Abstand zu den Einkommen der Privatwirtschaft (ver.di-Presseinformation vom 9.2.2012). Zur Finanzierbarkeit der Forderungen argumentierte ver.di, dass die schwierige Haushaltssituation nicht naturgegeben, sondern maßgeblich durch politische Entscheidungen herbeigeführt worden sei. Mit einem Konzept zur Steuergerechtigkeit habe die Gewerkschaft Vorschläge zur notwendigen Verbesserung der öffentlichen Einnahmen gemacht (ver.di 2011).

Die Gewerkschaften legten die Verhandlungen so an, dass bereits für die erste Verhandlungsrunde am 1.3.2012 von den öffentlichen Arbeitgebern ein verhandlungsfähiges Angebot verlangt wurde. Zur Unterstützung dieser Forderungen wurde in den Tagen unmittelbar zuvor eine Vielzahl von gewerkschaftlichen Aktionen durchgeführt. Die Arbeitgeber wiesen die gewerkschaftliche Forderung als „völlig unrealistisch“ zurück und machten die Vorlage eines Angebots von der Reduzierung der Forderungen abhängig. Die kommunalen Arbeitgeber wiesen vor allem auf die Rekordverschuldung der Kommunen hin. Ein Nachholbedarf des öffentlichen Dienstes wurde bestritten. Die Mindestforderung von 200 € wurde strikt abgelehnt. Sie betreffe 62 % der Entgeltgruppen und keinesfalls nur die unteren Gruppen. Sie untergrabe auch die Wettbewerbsfähigkeit der kommunalen Unternehmen. Die Gewerkschaften riefen daraufhin zu Warnstreiks in der Woche ab dem 5.3. auf, an denen sich rund 130.000 Beschäftigte beteiligten. ver.di wertete dies als sehr gute Beteiligung, die deutlich über den Erwartungen gelegen habe.

In der 2. Verhandlungsrunde am 12./13.3.2012 legten Bund und kommunale Arbeitgeber ein erstes Angebot vor, das folgende Elemente umfasst:

  • Anhebung der Tarifentgelte um 2,1 % ab 1.5.2012
  • Stufenanhebung von weiteren 1,2 % ab 1.3.2013
  • Pauschalzahlung von 200 € (Auszubildende 40 €) für März und April
  • Laufzeit von 24 Monaten
  • Übernahme der Auszubildenden für 12 Monate bei entsprechendem Bedarf

In der öffentlichen Darstellung stellten die Arbeitgeber die Erhöhung um 3,3 % in der Summe heraus und reklamierten, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst damit an der allgemeinen Lohnentwicklung teilhaben würden. Aus Sicht der Gewerkschaften war dieses Angebot „in keinem Punkt akzeptabel“. ver.di errechnete unter Berücksichtigung der beiden Leermonate und der Pauschalzahlung eine durchschnittliche Erhöhung von 1,77 % je Jahr und damit Reallohnverluste. Die Einmalzahlung könne nicht als soziale Komponente angesehen werden und die Übernahmeregelung schreibe lediglich die unzureichende Regelung aus dem Jahr 2010 fest.

Ergebnis
Um den Druck auf die Arbeitgeberseite zu erhöhen, riefen die Gewerkschaften ab dem 19.3. zu einer zweiten, ausgeweiteten Warnstreikwelle auf. Mit insgesamt 215.000 TeilnehmerInnen beteiligten sich noch einmal deutlich mehr Beschäftigte als an der ersten Warnstreikwelle. Die dritte Verhandlungsrunde war für den 28./29.3. terminiert und dauerte mit mehreren Unterbrechungen bis zum Morgen des 31.3. Sie führte letztlich zu folgendem Ergebnis:

  • Erhöhung der tariflichen Entgelttabellen rückwirkend ab 1.3.2012 um 3,5 %
  • Stufenerhöhung um 1,4 % ab 1.1.2012 und weitere 1,4 % ab 1.8.2013
  • Laufzeit von insgesamt 24 Monaten bis Ende Februar 2014
  • Erhöhung der Ausbildungsvergütungen ab März 2012 um 50 € und ab August 2013 um weitere 40 €
  • Übernahme der Ausgebildeten nach bestandener Prüfung für zunächst 12 Monate, bei Bewährung und Bedarf danach unbefristet
  • Flughäfen: Sonderzahlung von 600 € für ArbeitnehmerInnen an Flughäfen mit mindestens 5 Mio. Passagieren und 200 € für alle übrigen
  • Urlaub: ab 2013 Urlaubsanspruch von 29 Arbeitstagen für alle Beschäftigte, nach dem 55. Lebensjahr von 30 Tagen. Besitzstandsregelung für alle mit derzeit 30 Tagen Urlaubsanspruch (2)

Materiell bedeutet dieser Abschluss, dass die Tabellenvergütungen nach Umsetzung der drei vereinbarten Anhebungen um 6,4 % über dem Ausgangsniveau liegen. Jahresbezogen ergibt sich für das Jahr 2012 eine Erhöhung der Tarifvergütung gegenüber dem Vorjahr um 2,4 % und für das Jahr 2013 gegenüber 2012 um 2,6 %. Die Ausbildungsvergütungen werden überproportional um insgesamt 10 - 12 % angehoben. Positiv wurde die Einmalzahlung für die Beschäftigten an Flughäfen vermerkt. Die Regelung zur Ausbildungsübernahme blieb allerdings deutlich hinter den Erwartungen zurück.
Dieses Ergebnis wurde in der Bundestarifkommission von ver.di lange und intensiv diskutiert. Insbesondere das Fehlen einer sozialen Komponente wurde heftig kritisiert. Auch die Urlaubsregelung fand nur begrenzte Zustimmung. Letztlich stimmte die Bundestarifkommission dem Ergebnis dann doch mehrheitlich zu, vor allem deswegen, weil angesichts der vereinbarten Entgeltzuwächse für wichtige Arbeitskampfbereiche keine hinreichende Streikbereitschaft mehr erwartet wurde. In der bis zum 24.4. durchgeführten Befragung sprachen sich 74 % der betroffenen Mitglieder für die Annahme der Tarifeinigung aus. Das Diskussionsspektrum markieren zwei unterschiedliche Einschätzungen prominenter ver.di-Funktionäre: Der frühere stellvertretende ver.di-Bezirksleiter in Bayern, Michael Wendl, konstatierte einen tarifpolitischen Erfolg, weil der Abschluss den Anforderungen an eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik gerecht werde und ohne Schlichtung erreicht worden sei (Wendl 2012). Eine kritischere Bewertung nahm dagegen der Stuttgarter ver.di-Geschäftsführer Bernd Riexinger vor. Er kritisierte den mehrfachen Wechsel in der Verhandlungsführung und insbesondere den Verzicht auf die Umsetzung der von ver.di geplanten Erzwingungsstreikstrategie (Riexinger 2012).

ver.di sprach von einem insgesamt „beachtlichen Ergebnis, das im Wesentlichen der Streikbereitschaft der Beschäftigten zu verdanken gewesen sei." Es sei mit dem Abschluss gelungen, die Reallöhne für 2012 und 2013 nachhaltig zu sichern“, betonte der ver.di-Vorsitzende Bsirske. Aus Sicht der Arbeitgeber handelte es sich um einen „schwierigen, aber gerade noch vertretbaren Abschluss“. Als Pluspunkte nannten die Arbeitgeber die Laufzeit von 24 Monaten mit stufenweisen Erhöhungen, das Vermeiden eines Mindestbetrages und die Neuregelung des Urlaubsanspruchs. Außerdem habe ein Flächenstreik vermieden werden können.

In der Presse wurde der Abschluss unterschiedlich kommentiert. Die FAZ befand, der „Tarifabschluss kommt den Staat teuer zu stehen“. Es sei „unerklärlich“, warum die öffentlichen Arbeitgeber „so schnell und so stark eingeknickt“ seien (2.4.2012). Die Financial Times Deutschland sah voraus, dass das „satte Plus“ auch die Verhandlungen in der Industrie beeinflussen werde und zitierte Bundesbank-Präsidenten Weidmann mit der Warnung, den Abschluss als Vorbild für andere Branchen zu nehmen (2.4.2012). Die Frankfurter Rundschau machte hingegen darauf aufmerksam, dass die Volkswirte der Banken den Lohnabschluss lobten, weil er eine gute Nachricht für den privaten Konsum sei und dazu beitrage, die Ungleichgewichte in Europa zu verringern (3.4.2012).

Quelle: WSI-Tarifpolitischer Halbjahresbericht 2012 - Stand Juli 2012

Außerdem:
Riexinger, B. (2012): Zustimmung und Ablehnung. Zum Tarifergebnis im öffentlichen Dienst, in: Sozialismus 39 Jg., Heft 364, S. 36-39
Wendl, M. (2012): Der Abschluss im öffentlichen Dienst: Tarifpolitischer Erfolg, www. sozialismus.de, 3.4.2012

(1) Neben ver.di zählen die GEW, EVG und GdP seitens des DGB gemeinsam mit der dbb Tarifunion zu den verhandelnden Gewerkschaften im öffentlichen Dienst.

(2) Eine neue Urlaubsregelung war notwendig geworden, weil das Bundesarbeitsgericht am 20.3 entschieden hatte, dass die bestehende Urlaubsstaffelung (26 Arbeitstage unter 30, 29 unter 40 Lebensjahren und 30 ab dem 40. Lebensjahr) gegen das Allgemeine Gleichhandlungsgesetz (AGG) verstößt.

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