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Tarifarchiv - Analysen Tarifarchiv

Tarifrunde 2008: Metallindustrie

Die Tarifrunde 2008/2009 in der Metall- und Elektroindustrie wurde in der entscheidenden Phase von der Finanzmarktkrise überschattet. Während sich die Erwartungshaltung der Beschäftigten und die gewerkschaftliche Forderungsdiskussion noch vor dem Hintergrund ungetrübter Branchenkonjunktur mit besten Renditeziffern entwickelt hatte, wurden die Tarifparteien wenige Wochen vor Beginn der Verhandlungsphase von den sich häufenden Hiobsbotschaften der Finanzmärkte überrascht.

Unter dem Eindruck der sich nahezu täglich verschärfenden Krise mit greifbaren Auswirkungen auf die Realwirtschaft einigten sich die Tarifparteien nach vier Verhandlungsrunden und massiven Warnstreiks Mitte November auf einen Abschluss, der für die Beschäftigten zwar voraussichtlich eine spürbare Reallohnsteigerung bringen wird, aber dennoch deutlich hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückblieb.

Altersteilzeit

Vor dem Beginn der Lohnrunde stand die Verhandlung einer Anschlussregelung zur Altersteilzeit (ATZ) ab 2010 auf der Tagesordnung. Anlass dafür war das Auslaufen der gesetzlichen Regelung zur Förderung der Altersteilzeit und der darauf aufbauenden tariflichen Regelungen Ende 2009. Die IG Metall hatte zu Ende April 2008 nahezu alle regionalen ATZ-Tarifverträge gekündigt. Nach monatelangen Verhandlungen und bundesweiten Warnstreikaktionen, an denen sich 360.000 Beschäftigte beteiligten, einigten sich die Tarifparteien in Baden-Württemberg in der achten Verhandlungsrunde am 3. September auf einen "Tarifvertrag zum flexiblen Übergang in die Rente". Er beinhaltet folgende Regelungen:

Möglichkeit zum Abschluss eines Altersteilzeitvertrages (ATZ) für bis zu 4 % der Beschäftigten mit mindestens 12-jähriger Betriebszugehörigkeit

  • Davon sind bis zu 2,5 % reserviert für Beschäftigte in Schichtarbeit oder unter besonders starken Umgebungseinflüssen.
  • Modell 1: ATZ für bis zu 4 Jahre (allgemeiner Anspruch) oder
  • Modell 2: ATZ für bis zu 6 Jahre (für besonders belastete Beschäftigte)
  • Aufstockung der Vergütung zwischen 85 - 89 % des bisherigen Nettoentgeltes; die Rentenversicherungsbeiträge werden auf 95 % aufgestockt.
  • Möglichkeit zum Abschluss abweichender wertgleicher Betriebsvereinbarungen
  • Die Finanzierung der Kosten der Altersteilzeit erfolgt paritätisch durch Beschäftigte und Arbeitgeber.
  • Arbeitnehmerbeitrag in Höhe von 0,4 % der Entgeltsumme ist im Rahmen einer künftigen Entgelterhöhung zu erbringen.

Der Vertrag tritt zum 1.1.2010 in Kraft und hat eine Laufzeit bis Ende 2016. In den folgenden Wochen wurde der Tarifvertrag auch von den anderen Tarifbezirken der Metallindustrie übernommen.

Lohnrunde: Ausgangssituation und Forderung

In der Tarifrunde 2007 war der IG Metall in der Metallindustrie ein Abschluss gelungen, der den Beschäftigten für das Jahr 2007 mit einem Tarifplus von 4,1 % eine erkennbare Reallohnsteigerung sicherte und das Ziel der Metallarbeitgeber, mit dem Abschluss unterhalb des Vorjahresniveaus zu bleiben, wirksam durchkreuzte (Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2008). Der Preis war eine längere Laufzeit von 19 Monaten und eine Stufenanhebung in 2008 von relativ moderaten 1,7 % ab Juni, die allerdings durch eine zusätzliche Einmalzahlung aufgebessert wurde.

Angesichts einer fortlaufend hervorragenden Metallkonjunktur einschließlich einer vorzüglichen Gewinnsituation und kräftig steigender Verbraucherpreise kündigte die Gewerkschaft bereits frühzeitig an, den Abschluss von 2007 in der Tarifrunde 2008/2009 übertreffen zu wollen. Die in den Betrieben und gewerkschaftlichen Gremien diskutierte Forderung bewegt sich mehrheitlich zwischen 7 und 8 %, in einigen Betrieben und Verwaltungsstellen wurden allerdings auch Forderungen von bis zu 10 % diskutiert. In manchen Bezirken wurde auch eine soziale Komponente gefordert, die eine überdurchschnittliche Anhebung der unteren Vergütungsgruppen zum Ziel hatte. Die IG Metall-Vorstandsempfehlung vom 8.9.2008 sah einen Forderungskorridor von 7 bis 8 % vor. Diese Empfehlung begründete der Vorstand zum einen gesamtwirtschaftlich mit dem "unbalancierten" Aufschwung, der angesichts der rückläufigen weltwirtschaftlichen Nachfrage dringend einer Stärkung der Binnennachfrage durch steigende Arbeitnehmereinkommen bedürfe. Zum anderen verwies er auf die "Ungerechtigkeit" des Aufschwungs, angesichts exorbitant gestiegener Unternehmensgewinne und Managereinkommen. Insgesamt konstatierte er einen "großen Nachholbedarf in Sachen Gerechtigkeit und Binnenwachstum" (Huber 2008, IG Metall 2008). Der endgültige Beschluss des Vorstands vom 23.9.2009 legte die Tarifforderung auf 8 % mit einer Laufzeit von 12 Monaten fest.

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall kritisierte diese "höchste Forderung der letzten 16 Jahre" als "unvernünftig" und "zur Hälfte mit Gefühlen" begründet (Kannegießer 2008). Die ökonomische Basis dafür sei nicht gegeben. Damit spielten sie auf das Gerechtigkeitsargument an, das die IG Metall stark in den Vordergrund ihrer Begründung gestellt hatte.

Verhandlungen und Warnstreiks

Die Vergütungstarifverträge für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie liefen zum 31.10. aus. Den Auftakt der Tarifrunde bildete die Verhandlung für die Mittelgruppe (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) bereits am 2.10., gefolgt von den anderen Tarifbezirken bis zum 14.10. In allen Verhandlungen vertagten sich die Tarifvertragsparteien nach dem Austausch über die gesamtwirtschaftliche Lage, die Branchensituation sowie die Begründung der Forderung der IG Metall ohne Ergebnis.
Auch in der zweiten Verhandlungsrunde, die regional vom 22.10. bis 4.11. lief, legten die Arbeitgeber kein Angebot vor. Stattdessen schlug Gesamtmetall der IG Metall am 23.10. vor, in gemeinsamen Verhandlungen unter Beteiligung aller Regionen auf Bundesebene nach einer Lösung zu suchen. Die IG Metall lehnte dies als "taktisches Manöver" mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen, ab.
In Baden-Württemberg legten die Arbeitgeber am 30.10. in der dritten Verhandlungsrunde, kurz vor dem Auslaufen der Friedenspflicht, ein bundesweit abgestimmtes Angebot vor, das folgende Elemente beinhaltete:

  • Tabellenerhöhung von 2,1 % von Januar bis Dezember 2009
  • Pauschalzahlung von insgesamt 0,8 % des Jahreseinkommens 2008 für November und Dezember 2008
  • betriebliche Flexibilisierung der Dezember-Komponente
  • Laufzeit insgesamt 14 Monate

Das Angebot entsprach der seit einigen Jahren zu beobachtenden Tarifstrategie der Arbeitgeber: Durch die Pauschalzahlungen soll die dauerhafte Tarifanhebung nach Möglichkeit begrenzt werden, die Variabilisierung des Tarifabschlusses soll durch die Möglichkeit der Streichung der Einmalzahlung für Dezember erreicht werden. Südwestmetall sprach von einem "Signal der Fairness und Verantwortung".
Die IG Metall lehnte dieses Angebot ab, da es weder die Kaufkraft sichern, noch eine faire Beteiligung der Beschäftigten gewährleisten würde. In der Nacht zum 1.11. begann die IG Metall mit Warnstreiks, die in den kommenden Tagen schrittweise ausgedehnt wurden. Die Mobilisierungsbereitschaft war sehr hoch, insgesamt beteiligten sich nach Angaben der IG Metall bis zum 12.11. bundesweit rund 611.000 ArbeitnehmerInnen in knapp 2.700 Betrieben an den Warnstreikaktivitäten.

Ergebnis

In der vierten Verhandlungsrunde am 11. und 12. November in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg konnten die Tarifparteien einen Pilotabschluss erzielen und damit einen bevorstehenden Streik abwenden. Das Ergebnis umfasst folgende Bestandteile:

  • 510 € Pauschale insgesamt (für Auszubildende 133 €) für November 2008 bis Januar 2009
  • Tariferhöhung von 2,1 % ab 1.2.2009 sowie eine Erhöhung um weitere 2,1 % auf die Tarifvergütungen zum Zeitpunkt Ende Oktober ab 1.5.2009
  • 122 € zusätzliche Einmalzahlung im September 2009
  • Verschiebung der zweiten Tariferhöhung um bis zu 7 Monate sowie entsprechende Kürzung der zusätzlichen Einmalzahlung in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Lage des Betriebes durch Betriebsvereinbarung ist möglich
  • jeweils 0,4 % eines Monatsentgeltes als zusätzliche Einmalzahlung für Januar bis April 2010 zur Finanzierung des Arbeitnehmer-Beitrags zur Altersteilzeit

Laufzeit des Vertrages insgesamt 18 Monate bis 30.4.2010

Eine nähere Betrachtung des Verhandlungsergebnisses zeigt: Die Tarifvergütungen werden durch den Abschluss dauerhaft um 4,2 % erhöht. Für das Jahr 2009 ist davon auszugehen, dass die Tarifanhebungen bei erwarteten Preissteigerungen um 2 bis 2,5 % ein spürbares reales Plus bringen werden. Die Pauschalzahlung für die ersten drei Monate bedeutet für die unteren Tarifgruppen (befristet) eine überdurchschnittliche Einkommenssteigerung. Im Schnitt entspricht sie rund 6,5 % des durchschnittlichen Monatsentgeltes. Die Öffnungsklausel zur Verschiebung der zweiten Tarifperiode bildet erneut ein Element der Variabilisierung des Abschlusses.

Der Abschluss, den alle Bezirke übernahmen, wurde von der IG Metall als "ordentliches Ergebnis in historisch schwieriger Lage" (Berthold Huber) gewertet. In den Tarifkommissionen fanden sich überall große Mehrheiten der Zustimmung, gleichwohl gab es eine breite, teils kritische Diskussion. Sie hat ihre Ursachen zweifelsohne in der Diskrepanz zwischen der hohen Erwartungshaltung der Beschäftigten einerseits und dem letztlich durch die Finanzmarktkrise gedrückten Ergebnis andererseits. Angesichts der zunehmend spürbaren realwirtschaftlichen Folgen vor allem in der Automobilindustrie und den Zulieferbetrieben hatte sich der Vorstand letztlich gegen einen Arbeitskampf entschieden. "Die IG Metall stand vor dem Dilemma, in hohem Maße mobilisierungsfähig, aber nicht in gleichem Maße streikfähig zu sein" (Jänicke/Rohnert/Wagner 2008). IG Metall-Vorsitzender Huber räumte dann auch ein, dass es der Gewerkschaft nicht gelungen sei, die "Gerechtigkeitslücke" so zu verkleinern wie gewünscht.

Gesamtmetall hob in seiner Bewertung die "maßvolle Dauerbelastung" hervor und betonte zudem die "Kostenflexibilität" durch Möglichkeit der betrieblichen Differenzierung des Tarifergebnisses, die bei voller Ausschöpfung zu einer Halbierung der Kostenbelastung der Betriebe im Jahr 2009 führen könne (Gesamtmetall-Presseinformation vom 12.11.2008).  Eine solche betriebliche Komponente sei "ein fester Bestandteil moderner Tarifabschlüsse" geworden, betonte Gesamtmetall-Präsident Kannegießer.
Die Kommentare in den Medien fielen unterschiedlich aus: "Ein gerechtes Ergebnis" (Frankfurter Rundschau, "Sieg der Vernunft" (Financial Times Deutschland), "Besser als ein Arbeitskampf" (Handelsblatt), "Ziel verfehlt" (tageszeitung). Kein Zweifel bestand bei den Beobachtern daran, dass die IG Metall der verschlechterten Wirtschaftslage Tribut zollen musste.

Quelle: WSI-Tarifbericht 2008

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