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Tarifrunde 2005: Chemische Industrie

In der chemischen Industrie liefen die regionalen Vergütungstarifverträge Ende Mai, Juni bzw. Juli aus. Sie hatten neben einer Einmalzahlung eine lineare Erhöhung der Tarifentgelte um 1,5 % bei einer Laufzeit von 13 Monaten beinhaltet. Der Hauptvorstand der IG BCE legte am 7.3.2005 eine Forderungsempfehlung für die Tarifrunde 2005 vor. Der Schwerpunkt lag auf einer Erhöhung der realen Einkommen.

Es sollte ein Tarifabschluss angestrebt werden, der "die hohe Leistungsfähigkeit und Qualifikation der Beschäftigten sowie die Produktivitätsentwicklung berücksichtigt und neben dem Ausgleich der Preissteigerung eine reale Einkommenserhöhung sicherstellt". Anders als im Vorjahr verzichtete die Gewerkschaft auf eine Quantifizierung der Entgeltforderung. Die Zahl der Ausbildungsplätze sollte im Rahmen des bestehenden Tarifvertrages zur Ausbildungsförderung nochmals gesteigert werden. Außerdem strebte die IG BCE eine Regelung zur verbindlichen Altersvorsorge an. Neu war zudem die Forderung nach einer  Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern. Damit nahm die IG BCE Bezug auf die Debatte um tarifliche Vorteilsregelungen, die im vergangenen Jahr entbrannt war und in einigen Tarifbereichen (z.B. Metallindustrie NRW) zu konkreten Vereinbarungen geführt hatte (WSI-Tarifbericht 2004).

Konkret stellte sich die Gewerkschaft die Einführung eines Anspruchs auf bezahlte Freistellung zu Gunsten einer Qualifizierungsmaßnahme vor. Dazu sollten die Tarifvertragsparteien eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 Tarifvertragsgesetz gründen. Anspruch auf Leistungen dieser Einrichtung sollten nur Gewerkschaftsmitglieder haben. Zur Finanzierung sollten die Unternehmen verpflichtet werden, 8 Promille der Bruttolohn- und -gehaltssumme als Beitrag zu zahlen.

Der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) forderte im Gegenzug eine "tarifpolitische Stabilitätsrunde". Tarifpolitische Vorsicht sei geboten, weil der Chemie-Aufschwung sich auf dünnem Eis bewege und die Konjunktur in mehrfacher Hinsicht nach Branchen und Betriebsgröße gespalten sei. Bei den Tarifforderungen der Gewerkschaft handele es sich um ein kompliziertes und kostenträchtiges Paket. Die Forderung nach Bonusregelungen für Gewerkschaftsmitglieder lehnte der Verband strikt ab.

Die erste Verhandlungsrunde fand beginnend am 23.5. auf regionaler Ebene statt. Die Tarifparteien hatten aber bereits zu Beginn vereinbart, anschließend auf Bundesebene weiter zu verhandeln. Die erste zentral geführte Runde fand am 7.6. in Hannover statt. Strittig war insbesondere die Bewertung der wirtschaftlichen Situation. Aus Sicht der IG BCE rechtfertigte der stabile Aufschwung in der 2. Jahreshälfte eine kräftige Reallohnerhöhung, der BAVC wies darauf hin, dass die guten Ergebnisberichte der großen Chemie-Unternehmen nicht repräsentativ für die gesamte Branche seien. In den regionalen Verhandlungen hatten sie den Verteilungsspielraum mit 0,7 bis 1 % beziffert. IG BCE-Vorstand Werner Bischoff resümierte, dass man "in Kernfragen noch meilenweit auseinander" sei, allerdings in Teilbereichen Annäherungen zu verzeichnen seien. Die zweite Runde, die am 16.6. in Lahnstein stattfand, führte bereits nach wenigen Verhandlungsstunden zum Ergebnis.

Das Ergebnis beinhaltet folgende Komponenten:
 

  • Erhöhung der Tarifentgelte und Ausbildungsvergütungen um 2,7 % regional unterschiedlich ab 1.6./1.7./1.8.2005 für eine Laufzeit von 19 Monaten bis 31.12.2006 bzw. 31.1. und 28.2.2007.
  • Zusätzliche Einmalzahlung in Höhe von 1,2 % pro Monat der Laufzeit. Eine Öffnungsklausel sieht vor, dass Unternehmen in einer wirtschaftlich schwierigen Lage den Betrag senken, wegfallen lassen oder den Auszahlungszeitpunkt neu festlegen können. Voraussetzung ist das Einverständnis der Betriebsräte, nicht jedoch der Gewerkschaft.
  • Die Inanspruchnahme der vermögenswirksamen Leistungen erfolgt ab 1.1.2006 verbindlich für die Altersvorsorge: Aufstockung des Betrages von 478,57 € um einen Arbeitgeberbeitrag von 134,98 €. Für jede weiteren umgewandelten 100 € erfolgt ein Arbeitgeberzuschuss von 13 € (Chemietarifförderung).
  • Tarifvertrag "Zukunft durch Ausbildung": Erhöhung der Ausbildungsplatzzahlen um 1,6/1,7 % in den Ausbildungsjahren 2006/2007. Dadurch soll es im Jahr 2007 rund 7 % mehr Ausbildungsplätze geben. Bei einer Steigerung um weniger als 1,1/1,2 % werden unverzüglich Verhandlungen aufgenommen.
  • Unterstützungsverein Chemische Industrie (UCI): Umstellung der Unterstützungsleistung auf monatlichen Festbetrag.
  • Redaktionelle Überarbeitung des Manteltarifvertrages; Beibehaltung und Festschreibung der Arbeitszeit bis Ende 2007.
  • Wiederinkraftsetzung der Regelungen über die abgesenkten Einstiegstarife.

Keine Regelungen wurden zu der von der IG BCE geforderten Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern getroffen. Allerdings ist es der Gewerkschaft nach eigener Auffassung gelungen, das Thema "tariffähig" zu machen. Im Ergebnisprotokoll zum Gesamtpaket heißt es: "BAVC und IG BCE werden außerhalb der Tarifgespräche die Grundsatzdiskussion über Wert und Inhalte der Sozialpartnerschaft und die Rolle der Gewerkschaft in Unternehmen und Gesellschaft unter Berücksichtigung der Förderung beiderseitiger Verbandsinteressen an mitgliederstarken Organisationen fortführen."

Am 1.7. wurde der Abschluss in seinen Kernpunkten auch für die ostdeutsche Chemieindustrie übernommen. Außerdem wurden weitere Anpassungsstufen des Ost-Entgelts an das Westniveau vereinbart. Bereits im Jahr 2002 war grundsätzlich eine Niveauanpassung auf 100 % bis zum Jahr 2009 vereinbart worden, die einzelnen Stufen werden jeweils in den laufenden Entgeltrunden konkret festgelegt. Zum 1.10.2005 steigen die Tarifentgelte um 2,5 % (Stufenanhebung aus Abschluss 2004), zum 1.10.2006 um 1,5 % und zum 1.10.2007 noch einmal um 1,6 %. Die Tarifparteien einigten sich ferner auf die Vereinheitlichung der tariflichen Altersvorsorge zum 1.1.2007 für die chemische Industrie in ganz  Deutschland. Die Erklärungsfrist für den Ost-Abschluss läuft bis zum 20.7.

IG BCE-Tarifvorstand Werner Bischoff nannte das Ergebnis insgesamt "für uns positiv und zukunftsweisend" und hob insbesondere die reale Einkommenssteigerung hervor.  Das Ergebnis "entspricht der Lage in der chemischen Industrie". Die Chemie-Arbeitgeber betonten, dass die Einmalzahlung nicht in die Tarifbasis eingehe und "vollständig flexibilisiert" sei. Ihr Verhandlungsführer, Hans-Carsten Hansen, bezifferte die "Dauerbelastung", die aus dem Abschluss resultiert, auf "lediglich 2 %". Auf Seiten der IG BCE war demgegenüber von 2,8 % die Rede.

Gemessen an den anderen Abschlüssen der Tarifrunde 2005 liegt das Tarifergebnis für die chemische Industrie zweifellos am oberen Rand. Allerdings sind nur rund zwei Drittel des Ergebnisses tabellenwirksam und damit dauerhaft gesichert, ein Drittel in Form der Einmalzahlung hat zeitlich befristete Wirkung und kann zudem aufgrund der Öffnungsklausel auf betrieblicher Ebene noch reduziert werden. Diese Struktur lag auch bereits dem Abschluss des Vorjahres zugrunde.

Auszug aus: WSI-Tarifbericht 1. Halbjahr 2005

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