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Tarifarchiv - Analysen Tarifarchiv

Tarifrunde 2018: Metall- und Elektroindustrie

Angesichts der guten Konjunkturlage in der Metall-und Elektroindustrie hatte sich die IG Metall von vornherein dafür entschieden, neben kräftigen Lohnerhöhungen auch die Frage der Arbeitszeit wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Um die effektiven Arbeitszeiten und die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten besser zu erfassen, hatte sie im Vorfeld der Tarifrunde eine große Beschäftigtenumfrage durchgeführt, an der sich fast 700.000 Personen beteiligt haben (IG Metall 2017a). Im Kern kommt die Befragung zu dem Ergebnis, dass bei vielen Beschäftigten erhebliche Diskrepanzen zwischen der vertraglichen, der tatsächlichen und der gewünschten Arbeitszeit bestehen. Deshalb ging es der IG Metall vor allem darum, in der Tarifrunde 2018 einen Einstieg zu finden, die individuelle Zeitsouveränität der Beschäftigten zu stärken (Zitzelsberger 2018).

Nach umfangreichen Diskussionen in den Betrieben und den regionalen Tarifgremien beschloss der Vorstand der IG Metall am 26. Oktober 2017 für die 3,9 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie folgende Forderungen (IG Metall 2017b):

  • eine Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütungen von 6,0 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten;
  • die Einführung eines individuellen Anspruchs auf Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten und einem anschließenden Rückkehrrecht zum vorherigen Arbeitszeitvolumen;
  • einen Teilentgeltausgleich von 200 Euro pro Monat für Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit mindestens um 3,5 Stunden pro Woche reduzieren und dies zur Betreuung von Kindern unter 14 Jahren oder zur Pflege von Angehörigen nutzen;
  • einen Teilentgeltausgleich von 750 Euro pro Jahr für Beschäftigte in Schichtarbeit oder mit anderen belastenden Arbeitszeitmodellen, bei Reduzierung der Arbeitszeit;
  • die Einführung einer bezahlten Freistellung von Auszubildenden zur Prüfungsvorbereitung von einem Tag je Prüfungstag;
  • eine Verhandlungsverpflichtung für einen Prozess zur Angleichung der Entgelte, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen im Tarifgebiet Ost an West.

Verhandlungen

Unmittelbar nach Veröffentlichung der IG Metall-Forderungen hat der Arbeitgeberverband Gesamtmetall diese als „nicht erfüllbar“ zurückgewiesen (Gesamtmetall 2017). Kritisiert wurde insbesondere der individuelle Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung, der aus Sicht der Arbeitgeber das bereits heute vorhandene Problem des Facharbeitermangels noch weiter verschärfen würde. Vor allem aber der geforderte Teillohnausgleich käme aus Sicht der Arbeitgeber einer „Stilllegeprämie für Fachkräfte“ gleich. Später hat Gesamtmetall sogar ein Rechtsgutachten anfertigen lassen, in dem die Forderung nach Teillohnausgleich für bestimmte Beschäftigtengruppen als angeblich „diskriminierend“ und damit „rechtswidrig“ eingeschätzt wird.

Zum Verhandlungsauftakt in Baden-Württemberg am 15. November 2017 legte der regionale Arbeitgeberverband Südwestmetall seinerseits Gegenforderungen vor, die in ähnlicher Weise von allen regionalen Arbeitgeberverbänden übernommen wurden: Im Einzelnen forderte Südwestmetall (2017a):

  • „die Ermöglichung individueller befristeter oder unbefristeter Arbeitszeitvereinbarungen ohne Quotenbeschränkung auch oberhalb von 35 Stunden pro Woche“;
  • „eine tarifliche Regelung, die eine kollektive, bedarfsbedingte vorübergehende Erhöhung der Arbeitszeit bei entsprechendem zuschlagsfreien Entgeltausgleich außerhalb von Mehrarbeit durch Betriebsvereinbarung ermöglicht;“
  • „einen tariflichen Rahmen, der die Voraussetzungen für Zeitzuschläge und deren Höhe so ausgestaltet, dass dies den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit im globalen Umfeld unterstützt. Dies beinhaltet auch eine tarifliche Klarstellung, dass Zeitzuschläge nicht anfallen, wenn der Beschäftigte selbst die Lage der Arbeitszeit bestimmen kann“;
  • „die Möglichkeiten/Dauer der sachgrundlosen Befristungen im Rahmen der Öffnungs-klausel im Teilzeit- und Befristungsgesetz zu erweitern“;
  • „ein gemeinsames Zugehen auf den Gesetzgeber mit dem Ziel einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes“.

In der zweiten Verhandlungsrunde Anfang/Mitte Dezember 2017 legten die Arbeitgeber dann ein erstes Angebot vor, das neben einer Pauschalzahlung von 200 Euro für Januar bis März eine Erhöhung der Entgelte um 2,0 Prozent ab April mit einer Gesamtlaufzeit von 15 Monaten umfasste. Gleichzeitig sollte die IG Metall jedoch zustimmen, die Möglichkeiten einer Arbeitszeitverlängerung auf betrieblicher Ebene deutlich zu erweitern (Südwestmetall 2017b). Ein individueller Anspruch auf temporäre Arbeitszeitverkürzung wurde in dem Arbeitgeberangebot hingegen nicht berücksichtigt. Erwartungsgemäß wies die IG Metall dementsprechend das Angebot als „Provokation“ zurück.

Während bereits zu den ersten beiden Verhandlungsrunden zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen organisiert wurden, begleitete die IG Metall nach dem Wegfall der Friedenspflicht die Verhandlungen ab Januar mit massiven Warnstreiks. Als Ergebnis wurde dann im Tarifgebiet Baden-Württemberg beschlossen, eine Expertengruppe aus Vertretern der Tarifvertragsparteien einzusetzen, die bis zur nächsten Verhandlung konkrete Lösungswege zu den Arbeitszeitthemen erarbeiten sollte. Damit war zugleich entschieden, dass Baden-Württemberg in der diesjährigen Tarifrunde den Pilotabschluss erzielen sollte.

Nachdem die vierte und fünfte Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg Ende Januar trotz der Vorarbeiten durch die Expertengruppe zu keinem Ergebnis führten, da die Arbeitgeber bereits gemachte Zusagen am Verhandlungstisch wieder zurückzogen, entschied sich die IG Metall dafür, in ganz Deutschland so genannte 24-Stunden-Warnstreiks durchzuführen. Nach Angaben der IG Metall (2018) haben sich während der Tarifrunde insgesamt etwa 1,5 Millionen Beschäftigte an den Warnstreikaktionen beteiligt. Schließlich konnte unmittelbar vor der möglichen Ausrufung eines unbefristeten Arbeitskampfes in der sechsten Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg am 5./6. Februar ein Ergebnis erzielt werden, das dann auch mit wenigen regionalen Abweichungen in allen anderen Tarifgebieten übernommen wurde.
Ergebnis

Der in Baden-Württemberg erzielte Tarifkompromiss besteht in einem komplexen Regelungswerk, das eine Vielzahl neuer Bestimmungen enthält (Zitzelsberger 2018). Bezogen auf das Entgelt wurden folgende Vereinbarungen getroffen:

nach 2 Nullmonaten (Januar und Februar) eine Pauschalzahlung von 100 Euro (70 Euro für die Auszubildenden) für März;

eine Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütungen um 4,3 Prozent ab April;

eine Laufzeit von 27 Monaten bis zum 31. März 2020;

die Einführung eines neuen jährlichen tariflichen Zusatzentgeltes (T-ZUG) von 27,5 Prozent eines Monatseinkommens, das erstmals im Juli 2019 ausgezahlt wird;

die Einführung eines jährlichen Festbetrages von 400 Euro (200 Euro für Auszubildende), der ebenfalls erstmals im Juli 2019 zur Auszahlung kommt und in Zukunft

tarifdynamisch als soziale Komponente (12,3 % der Entgeltgruppe 7) weitergeführt wird. Dabei haben Unternehmen, die sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, die Möglichkeit, betrieblich mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien eine zeitweilige Verschiebung, Reduzierung oder Streichung des Betrages zu vereinbaren.

Im Hinblick auf die Arbeitszeit gelten für die Beschäftigten folgende neue Regelungen:

die Einführung eines individuellen Anspruchs auf „kurze Vollzeit“, d. h. eine Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für einen Zeitraum von 6 bis zu 24 Monaten mit einem Rückkehrrecht in Vollzeit. Dieser Anspruch gilt für alle Vollzeitbeschäftigten mit mindestens 2 Jahren Betriebszugehörigkeit. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, den Anspruch zu verwehren, wenn bereits mehr als 10 Prozent der Belegschaft eine entsprechende Arbeitszeitverkürzung gewährt wurde. Gleiches gilt, wenn der betroffene Beschäftigte eine bestimmte Schlüsselqualifikation innehat und nachgewiesenermaßen kein unmittelbarer Ersatz gefunden werden kann;

Beschäftigte mit Kindern bis zu 8 Jahren, zu pflegenden Angehörigen oder in belastenden Arbeitszeitsystemen der Schichtarbeit haben die Möglichkeit, jährlich anstelle des tariflichen Zusatzgeldes acht zusätzliche freie Tage zu wählen. Dabei werden zwei Tage mehr gewährleistet als es dem rechnerischen Gegenwert der Zusatzzahlung entsprechen würde.

Im Gegenzug erhalten die Arbeitgeber erweiterte Möglichkeiten, die Arbeitszeit für einen Teil der Beschäftigten auf bis zu 40 Stunden pro Woche zu verlängern. Hierzu gehören bezogen auf die Regelung in Baden-Württemberg (mit regionalen Modifikationen in anderen Tarifgebieten):

die Fortführung der bereits seit längerem bestehenden Möglichkeit, die Arbeitszeit von bis zu 18 Prozent der Belegschaft auf bis zu 40 Stunden zu erhöhen;

die Möglichkeit zur Erhöhung der Quote auf bis zu 30 Prozent in Betrieben mit nachgewiesenem Fachkräftemangel. In diesen Fällen ist eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat notwendig;

die Erweiterung der bislang bestehenden Möglichkeit, in Betrieben mit einem hohen Anteil von hochqualifizierten Fachkräften die Arbeitszeit von max. 50 Prozent der Belegschaft auf bis zu 40 Stunden zu erhöhen;

die Möglichkeit zum Wechsel von den vorgenannten Quotenregelungen zu einem Volumenmodell, bei dem die Betriebe individuelle Arbeitszeiten solange auf bis zu 40 Stunden erhöhen dürfen, bis die durchschnittliche betriebliche Arbeitszeit 35,9 Stunden pro Woche erreicht.

Das erzielte Tarifergebnis in der Metall- und Elektroindustrie ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen enthält es überdurchschnittlich hohe Entgeltzuwächse, wie sie zuletzt in der Branche Ende der 1990er Jahre erzielt wurden (Schulten 2018). Zum anderen wurde mit den individuellen Wahloptionen bei der Arbeitszeit tarifpolitisches Neuland betreten und ein deutlicher Schritt in Richtung mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten getan. Allerdings wird sich hier erst noch zeigen, welche Widerstände der Arbeitgeber überwunden werden müssen, damit ihre Umsetzung in die betriebliche Praxis gelingt (Zitzelsberger 2018).

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