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Tarifrunde 2011: Chemische Industrie

Die Tarifrunde 2011 in der chemischen Industrie führte mit einem Tarifplus von 4,1 % bei einer Laufzeit von 15 Monaten zur höchsten Abschlussrate in einem Flächentarifvertrag in diesem Halbjahr. Damit gelang es der IG BCE, nach dem Abschluss aus dem Vorjahr mit einer reinen Pauschalzahlung von 550 €, in diesem Jahr eine beachtliche dauerhafte Tarifsteigerung zu vereinbaren. Das Kalkül, nach einer kurzen Laufzeit von nur 11 Monaten in einem deutlich besseren wirtschaftlichen Umfeld verhandeln zu können, ist insoweit aufgegangen.

Bereits in einer Bilanz der Tarifrunde 2010 der Gewerkschaft hieß es, die Tarifrunde 2011 werde "im Wesentlichen von den Erwartungen nach einer nachhaltigen Entgelterhöhung geprägt" (Jungvogel 2011, 44). Diese waren natürlich auch eine Reaktion auf das Tarifergebnis 2010, das "selbstverständlich . in den Betrieben schwierig zu vermitteln" war (ebenda, 39). Angesichts der positiven wirtschaftlichen Entwicklung formulierte die IG BCE in der Forderungsempfehlung des Hauptvorstandes vom 6.12.2010 für die Tarifrunde 2011 das Motto "Jetzt geht's um uns - Das ist unser Aufschwung". Die chemische Industrie habe das Vorkrisen-Niveau erreicht und sei im internationalen Wettbewerb glänzend aufgestellt. Die "Leitplanken" der Forderungsempfehlung sahen deshalb eine Steigerung der Tarifentgelte von 6 bis 7 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten vor. Als weitere "Zukunftsthemen", die ebenfalls im Rahmen der Tarifverhandlungen besprochen werden sollten, nannte die Gewerkschaft den Fachkräftemangel und die Nachwuchssicherung. Dazu gehöre auch, mehr Jugendlichen ohne qualifizierten Schulabschluss eine Chance zu geben. Angesichts der älter werdenden Belegschaften müsse auch das Thema Schichtarbeit neu beleuchtet werden. Außerdem seien Regelungen zur Verhinderung des Missbrauchs von Leiharbeit vonnöten.

Die Chemie-Arbeitgeber wiesen die Forderungsempfehlung "entschieden" zurück, die Gewerkschaft schieße mit ihren Forderungen "weit über's Ziel hinaus" (BAVC-Presseinformation vom 7.12.2010). Einen echten Aufschwung mit Zuwächsen gegenüber dem Vorkrisenniveau gebe es noch nicht. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen, die über 80 % der Mitgliedschaft des Verbandes ausmachten, seien oft "noch nicht aus dem Gröbsten raus".

Nach der organisationsinternen Diskussion beschloss die Bundestarifkommission der IG BCE am 11.2., für die Beschäftigten der chemischen Industrie Einkommenserhöhungen von 7,0 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten zu fordern. Das für Tarifpolitik zuständige Vorstandsmitglied Peter Hausmann formulierte: "Die 7 spiegelt die hohe Erwartungshaltung in unserer Mitgliedschaft. Diese Erwartungen sind nicht vom Himmel gefallen, sie entsprechen der Realität in den Betrieben. . Die Arbeitnehmer haben in der Krise erhebliche Einschnitte hingenommen und so die Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung mit geschaffen. Der Aufschwung ist da - und jetzt wollen wir daran teilhaben" (IG BCE-Medieninformation vom 11.2.2011). Tatsächlich markierte die Tarifforderung von 7 % die oberste Marke in der Tarifrunde 2011.

Die Tarifrunde 2011 für die chemische Industrie startete konkret in der Zeit vom 16. Februar bis 2. März mit auf regionaler Ebene geführten Verhandlungen, in deren Mittelpunkt die unterschiedlichen Auffassungen der Tarifvertragsparteien zur wirtschaftlichen Lage standen. Ein Angebot wurde von Seiten der Arbeitgeber nicht unterbreitet, die Forderung der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) nach einer Einkommenserhöhung von 7,0 % wurde als überzogen zurückgewiesen. Anschließend wurden die Verhandlungen am 15.3. in Hannover auf Bundesebene fortgesetzt. Die Arbeitgeber legten kein Angebot vor und zeigten sich aus Sicht der IG BCE "stur und unbeweglich". Die IG BCE veranstaltete deshalb in den folgenden zwei Wochen zahlreiche Kundgebungen und Protestveranstaltungen auf lokaler und regionaler Ebene, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen und zeigte damit stärker als in früheren Tarifrunden öffentlich Flagge. Die neun Protestkundgebungen im Rahmen einer "Tarif-Truck-Tour" wurden von rund 20.000 Beschäftigten besucht.

Vor Beginn der 2. zentral geführten Verhandlungsrunde formulierte Peter Hausmann das Ziel, man wolle "eine Marke setzen, die es in diesem Jahr noch nicht gegeben hat". Nach zweitägigen Tarifverhandlungen wurde ein Abschluss erreicht. Das Ergebnis umfasst folgende Elemente:

  • Nullmonat: Die Einkommenstarifverträge mit regional unterschiedlichen Laufzeiten wurden für einen Monat wieder in Kraft gesetzt,
  • Anhebung der Entgelte um 4,1 % für weitere 14 Monate, regional unterschiedlich ab 01.04./01.05./01.06.2011,
  • Erhöhung der Ausbildungsvergütungen nach einem Nullmonat um einheitlich 35 € monatlich.

Vereinbart wurde außerdem die Möglichkeit, die Erhöhung bei besonderem wirtschaftlichen Erfolg einen Monat früher oder aus wirtschaftlichen Gründen zwei Monate später zu zahlen. Diese Regelungen müssen zwischen den Betriebsparteien einvernehmlich getroffen werden. Bei nicht zu bereinigenden Meinungsverschiedenheiten können die regionalen Tarifparteien eingeschaltet werden.

Die Tarifvertragsparteien einigten sich darüber hinaus auf die Fortführung und Ausweitung des Förderprogramms "Start in den Beruf". Unter anderem wurde der Förderbetrag für Teilnehmer an einem Ausbildungsförderprogramm von bisher 205 € auf bis zu 430 € angehoben. In einer Protokollnotiz verständigten sich die Tarifparteien darauf, im Sommer 2011 in ersten Gesprächen zu erörtern, wie die demografisch bedingten personalpolitischen Handlungsfelder gemeinsam weiterentwickelt werden können. Außerdem soll eine gemeinsame Bestandsaufnahme der dualen Studiengänge in der Chemiebranche vorgenommen und ein Informationsaustausch über die neuen Chancen der Hochschulreform im Sinne der gesamten Branche durchgeführt werden.

Der IG BCE-Vorsitzende Vassiliadis wertete das Ergebnis als "einen guten, tragfähigen Kompromiss nach einer harten Auseinandersetzung" und Tarifvorstand Hausmann hob hervor, dass das selbstgesteckte Ziel, mit dem Abschluss eine bislang nicht erreichte Marke zu setzen, erreicht worden sei. Aus Sicht des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC) liegt der Abschluss "an der Grenze des Verkraftbaren". "Insgesamt konnten wir die effektive Kostenbelastung mit langer Laufzeit,  Leermonat und Verschiebung zu Beginn in einem akzeptablen Rahmen halten." (BAVC-Presseinformation vom 31.3.2011). BDA-Präsident Dieter Hundt warnte, der Abschluss könne kein Maßstab für andere Branchen sein und sei nur wegen der besonders guten Konjunkturlage der Chemieindustrie noch vertretbar.

Quelle: Tarifpolitischer Halbjahresbericht 2011 - Stand Juli 2011

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