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Tarifarchiv - Analysen Tarifarchiv

Tarifrunde 2005: Öffentlicher Dienst

Die Tarifrunde 2005 brachte einen tief greifenden Umbruch im Tarifgefüge des öffentlichen Dienstes. Die Tarifparteien vereinbarten eine grundlegende Reform des Tarifwerks für die ArbeiterInnen und Angestellten, die nicht nur eine Umgestaltung der Vergütungsbestimmungen, sondern auch der Arbeitszeitregelungen und zahlreicher anderer manteltariflicher Vorschriften beinhaltete.

Verknüpft wurde dies mit einem Lohn- und Gehaltsabschluss, der die Einkommensentwicklung für einen Zeitraum von fast 3 Jahren regelt.

Ablauf der Tarifverhandlungen

11/2001

ver.di bildet "Modernisierungskommission".

04.02.2002

"100-Punkte-Papier" von ver.di zur Tarifreform.

10.01.2003

Tarifparteien schließen sog. "Prozessvereinbarung" ab.

15.03.2004

Bundestarifkommission empfiehlt Weiterverhandlung.

26.03.2004

TdL beschließt Kündigung der Arbeitszeitbestimmungen West.

02.04.2004

ver.di beschließt Fortführung der Verhandlungen ohne die Länder.

16.12.2004

ver.di geht ohne bezifferte Forderung in die Tarifrunde ÖD 2005.

09.02.2005

Abschluss des TVöD.

01.10.2005

Inkrafttreten des TVöD.

Ausgangslage
Der Handlungsdruck für die Neugestaltung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst speiste sich aus mehreren Quellen: Zum einen weist das bisherige Tarifwerk mittlerweile ein beachtliches Alter auf. So stammt der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) vom Anfang der 60er Jahre und ist trotz aller Modifikationen, die er und auch die Arbeiter-Tarifverträge im Laufe der Jahrzehnte erfahren haben, in seinen Grundstrukturen weitgehend unverändert geblieben. Aus Sicht beider Tarifparteien waren grundlegende Überarbeitungen erforderlich.

Zum andern ergab sich Veränderungsbedarf aufgrund des Strukturwandels des öffentlichen Dienstes selbst. Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes setzte die öffentlichen Unternehmen und Betriebe unter einen enormen Wettbewerbsdruck. Sie verloren aufgrund der Liberalisierung in zahlreichen Bereichen ihre Monopolstellung so etwa im Bereich der Energiewirtschaft, des Nahverkehrs, der Abfallwirtschaft und der Krankenhäuser. Dies führte zu gravierenden institutionell-organisatorischen Veränderungen in diesem Bereich.

Schließlich sorgte seit Anfang der 90er Jahre die zunehmend prekäre Finanzsituation der Gebietskörperschaften dafür, dass die Arbeitgeber auch nach tarifpolitischen Auswegen suchten, um die Personalkosten zu begrenzen. Die andere Alternative war die zunehmende Tarifflucht, um die relativ hohen Tarifstandards des öffentlichen Dienstes unterlaufen zu können.  Verknüpft mit den Erosionsprozessen bei den Arbeitgeberverbänden ergab sich daraus auch für die Gewerkschaften eine prekäre Situation.

Die Reform der Tarifstrukturen hat eine lange Vorgeschichte. Bereits seit Mitte der 90er Jahre hatten die Gewerkschaften ÖTV und DAG in ihren tarifpolitischen Programmen eine umfassende Neugestaltung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst als Ziel formuliert. Die Bundestarifkommission öffentlicher Dienst von ver.di bildete im November 2001 eine "Modernisierungskommission", die sich im Detail mit den Anforderungen an ein neues Tarifrecht befassen sollte. Im März 2002 empfahl diese Kommission eine Verhandlungsaufnahme mit den Arbeitgebern und legte "100 Punkte" zur Diskussion eines einheitlichen Dienstrechtes vor. Im Rahmen des Abschlusses der Tarifrunde 2002/03 wurde im Januar 2003 eine "Prozessvereinbarung" abgeschlossen, die Ziele, Grundsätze und Verfahren des weiteren Vorgehens der Tarifvertragsparteien festlegte. Zu den darin festgehaltenen Zielsetzungen der Tarifparteien gehörten folgende Punkte:

- Stärkung der Effektivität und Effizienz des öffentlichen Dienstes
- Aufgaben- und Leistungsorientierung
- Kunden- und Marktorientierung
- Straffung, Vereinfachung und Transparenz
- Praktikabilität und Attraktivität
- Diskriminierungsfreiheit
- Lösung vom Beamtenrecht
- einheitliches Tarifrecht für Angestellte und Arbeiterinnen/Arbeiter

Verhandlungen
Die Verhandlungen zogen sich über einen Zeitraum von zwei Jahren hin. Es gab eine zentrale Lenkungsgruppe und zusätzlich 9 Projektgruppen, die ihre Arbeit im Mai 2003 aufnahmen. Vier Projektgruppen beschäftigten sich mit den inhaltlichen Regelungsbereichen Arbeitszeit, Entgelt und leistungsorientierte Vergütung, Eingruppierung und manteltariflichen Fragen. Fünf weitere Projektgruppen beschäftigten sich mit speziellen Regelungen für die Bereiche Verwaltung, Krankenhäuser, Sparkassen, Flughäfen und Entsorgung.

Der Verhandlungsprozess wurde durch das Verhalten der Länder in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) nachhaltig beeinträchtigt: Im Juni 2003 kündigte die TdL die Tarifverträge über die Zuwendung mit Wirkung zum 1. Juli 2003. Damit entfielen die Tarifbindungen für neu eingestellte Beschäftigte und für Beschäftigte mit Vertragsänderungen. Darüber hinaus drohten mehrere Länder wie Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen mit einem Austritt aus der TdL. Zum Bruch des Verhandlungsprozesses kam es, als die TdL im März 2004 die Tarifverträge über die Arbeitszeitbestimmungen in Westdeutschland kündigte, um auch im Bereich der Tarifbeschäftigten Arbeitszeitverlängerungen auf bis zu 42 Stunden durchzusetzen, die sie im Beamtenbereich bereits seit einiger Zeit realisiert hatten. Die Gewerkschaften brachen daraufhin die Verhandlungen mit den Ländern ab. Nach dem Ausscheiden der TdL wurde der Verhandlungsprozess neu strukturiert. Die Arbeit der Projektgruppen wurde ausgesetzt, Vertreter der Projektgruppen in die Lenkungsgruppe integriert. Von Mai 2004 bis Januar 2005 tagte die erweiterte Lenkungsgruppe rund 15-mal zum Teil zwei- und dreitägig. Die Zwischenergebnisse wurden am 27.1.2005 von der Bundestarifkommission mit 115 Ja-Stimmen und einer Enthaltung gebilligt.

Der letzte Lohn- und Gehaltsabschluss vom Januar 2003 lief Ende Januar 2005 aus. Innerhalb von ver.di gab es Diskussionen, ob und mit welcher Einkommensforderung sie in die anstehende Tarifrunde gehen sollte. Letztendlich verzichtete ver.di auf eine bezifferte Forderung, weil klar war, dass es eine Verknüpfung mit der angestrebten Tarifreform geben würde und vor diesem Hintergrund eine isolierte Lohnforderung nicht opportun erschien.

Ergebnis
Nach einer letzten dreitätigen Verhandlungsrunde einigten sich die Tarifparteien des Bundes, der Kommunen und ver.di am 9.2. auf die Neugestaltung des Tarifrechts für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst West und Ost. Die neuen Tarifverträge treten zum 1.10. in Kraft, die Einkommenstarifverträge haben eine Laufzeit bis zum 31.12.2007. Folgende Regelungen wurden u.a. vereinbart:

Einheitliches Entgeltsystem

  • Einführung einer neuen, einheitlichen Entgelttabelle mit 15 Entgeltgruppen für ArbeiterInnen und Angestellte sowie Beschäftigte in der Krankenpflege.
  • Differenzierung der Entgeltgruppen nach Tätigkeitsjahren mit in der Regel 6 Stufen (Stufe 2 - 6 nach 1, 3, 6, 10 und 15 Jahren).
  • Einführung einer neuen untersten Entgeltgruppe, die mit 1.286 € West deutlich unterhalb des bisherigen untersten Vergütungsniveaus liegt und vor allem weiteres Outsourcing verhindern soll.
  • Wegfall u.a. der allgemeinen Zulage und der Ortszuschläge.
  • Besitzstandssicherung des erreichten Einkommens.
  • Teilweiser Ausgleich künftiger Einkommensverluste durch einen sog. Strukturausgleich.

Entgelterhöhung

  • Alle ArbeitnehmerInnen des Bundes West und Ost sowie der Kommunen West erhalten für die Jahre 2005, 2006 und 2007 Pauschalzahlungen von jeweils 300 € (Auszubildende jeweils 100 €).
  • Für die Beschäftigten in den Gemeinden Ost wird das Tarifniveau von 92,5 % zum 1. Juli 2005/2006/2007 jeweils um 1,5 % angeglichen.
  • Laufzeit des Entgeltabschlusses bis 31.12.2007.

Leistungsorientierte Bezahlung

  • Ab dem Jahr 2007 wird eine variable leistungsorientierte Bezahlung im Volumen von 1,0 % eingeführt (Zielgröße: 8,0 % der Entgeltsumme des jeweiligen Arbeitgebers).
  • Finanzierung erfolgt aus Mitteln der abgesenkten Sonderzahlung.

Sonderzahlung

  • Die Auszahlung der Sonderzahlung erfolgt in 2005 und 2006 auf der Grundlage des bisherigen Urlaubs- und Weihnachtsgeldes.
  • Ab 2007 wird die Sonderzahlung zusammengefasst und einmal jährlich dynamisiert ausgezahlt. Sie beträgt 90/80/60 % eines Monatseinkommens für die Entgeltgruppen 1-8/9-12/13-15.
  • Im Osten beträgt die Sonderzahlung 75 % des Westniveaus.

Arbeitszeitdauer

  • Die Arbeitszeit für die Beschäftigten des Bundes wird im Westen von 38,5 auf 39 Stunden/Woche erhöht, im Osten wird sie von 40 auf 39 Stunden/Woche abgesenkt, die Entgelthöhe ändert sich dadurch nicht.
  • In den Kommunen wird die bisherige Arbeitszeit von 38,5/40 Stunden/Woche (West/Ost) beibehalten.
  • Einführung einer Öffnungsklausel: Arbeitszeitverlängerung bis zu 40 Stunden pro Woche auf kommunaler Ebene im Westen ist möglich. Voraussetzung ist eine Vereinbarung auf landesbezirklicher Ebene.

Arbeitszeitgestaltung

  • Ausgleichszeitraum für die durchschnittliche regelmäßige Arbeitszeit beträgt 1 Jahr.
  • Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Std. möglich ohne Überstundenzuschläge bei Mehrarbeit.
  • Tägliche Rahmenzeit von 12 Std. in der Spanne von 6 bis 20 Uhr möglich.
  • Arbeitszeitkontenregelung durch Betriebs- und Dienstvereinbarung möglich.

Unkündbarkeit

  • Die im Westen geltenden Bestimmungen zur Unkündbarkeit (Arb.: 15 Jahre Beschäftigungszeit, Ang.: 40 Jahre und 15 Jahre Beschäftigungszeit) bleiben erhalten.

Meistbegünstigungsklausel

  • Wenn ver.di für ein oder mehrere Bundesländer einen Tarifvertrag abschließt, der in den Bereichen Arbeitszeit und Sonderzahlung (Zuwendung, Urlaubsgeld u.ä.) abweichende Inhalte hat oder beim Entgelt für die Arbeitgeber günstigere Regelungen enthält, dann gilt dies zugleich als nicht widerrufbares Angebot an Bund und Kommunen.

Zahlreiche Einzelregelungen mussten und müssen noch im Rahmen von Redaktions-verhandlungen vereinbart werden. Die ver.di-Bundestarifkommission stimmte dem Verhandlungsergebnis mit 80 Ja-, 32 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen zu. Die neuen Tarifverträge treten zum 1.10. in Kraft.

Bewertung

Die Tarifparteien hoben in ihren Bewertungen übereinstimmend den Tatbestand als positiv hervor, dass es überhaupt gelungen sei, die gesamte Tarifstruktur grundlegend zu überarbeiten, setzten dann allerdings unterschiedliche Akzente. Aus Sicht der Arbeitgeber war vor allem die Abkehr vom Senioritätsprinzip und von den familienstands- und kinderzahlbezogenen Vergütungskomponenten hin zu einer leistungsbezogenen Vergütung von großer Bedeutung. Dass die leistungsbezogenen Komponenten nicht "on top" gezahlt werden, sondern kostenneutral durch Umwidmung eines Teils der Sonderzahlung finanziert werden, fand ebenfalls ihre ausdrückliche Würdigung. Des Weiteren begrüßten die Arbeitgeber die Einrichtung der neuen Niedriglohngruppe und die aus ihrer Sicht "moderate" Arbeitszeitverlängerung und die Möglichkeit der regionalen Öffnung. Insgesamt konnten der Gewerkschaftsseite aus ihrer Sicht "Zugeständnisse abgerungen werden, die zuvor kaum vorstellbar erschienen" (Böhle 2005; vgl. auch die Presseerklärung von Otto Schily vom 9.2.2005).

Nach Auffassung des ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske ist das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes mit den neuen Verträgen "zukunftsfest" gemacht worden. Ver.di stellte in ihrer Bewertung darauf ab, dass durch die neue Tarifstruktur keine/r der Beschäftigten etwas verliert, aber viele, vor allem jüngere Beschäftigte, materiell dazu gewinnen werden. Die neuen Vergütungsstrukturen und -formen schafften Transparenz und eröffneten Chancen. Positiv wertete ver.di auch die Arbeitszeitverkürzung für die Bundesbeschäftigten im Osten und die Beibehaltung der tariflichen Regelarbeitszeit von 38,5 Std. für die Kommunalbeschäftigten im Westen. Durch die neuen Arbeitszeit(konto)regelungen verbessern sich die Möglichkeiten, souveräner über die Arbeitszeit zu bestimmen. Bemerkenswert ist aus Gewerkschaftssicht auch die Erhaltung der Unkündbarkeitsbestimmungen im Westen.

Wie bereits in dem Abstimmungsergebnis der Bundestarifkommission deutlich wurde, gab es innerhalb von ver.di auch durchaus kritische Stimmen zu dem Abschluss, die verschiedene Probleme thematisierten (Sauerborn 2005; Wendl 2005): So wurde moniert, dass der Abschluss langfristig eine Absenkungswirkung gegenüber dem bisherigen Tarifniveau mit sich bringe und die Regelungen zur Bestandssicherung keinen kompletten Schutz böten. Kritisiert wurde auch die neu eingeführte Niedriglohngruppe, die ein Einfallstor in eine Lohndumpingspirale darstelle. Ebenso fand die Öffnungsklausel zur Arbeitszeit für den kommunalen Bereich nicht nur Zustimmung. Schließlich wurde auch die Einführung von Leistungslohnkomponenten als weitreichender "Paradigmenwechsel" problematisiert.

Verhandlungen mit den Ländern

Nach dem Abschluss mit Bund und Gemeinden forderte ver.di die Länder auf, das erzielte Ergebnis zu übernehmen. Für die Tarifgemeinschaft deutscher Länder erklärte der niedersächsische Finanzminister Möllring (CDU), der Abschluss könne kein Muster sein, weil wichtige Fragen wie die Arbeitszeitverlängerung nicht ausreichend und die Ermöglichung von eigenständigen Regelungen in den Ländern beim Weihnachts- oder Urlaubsgeld überhaupt nicht gelöst worden seien. Überdies wären das Reformpaket und der Abschluss von Potsdam insgesamt von den Ländern nicht finanzierbar. Erst am 14.4. begannen Gewerkschaften und TdL mit Verhandlungen, die dann auf den 24.4. vertagt wurden. Bundesweit gab es zahlreiche Protestaktionen und Warnstreiks, an denen sich zehntausende Beschäftigte beteiligten. Die Verhandlungsführung der Länder beharrte auf einer längeren Arbeitszeit für alle seit Mai 2004 neu eingestellten Beschäftigten auf bis zu 42 Stunden sowie einer Öffnungsklausel, um die Arbeitszeit für alle regional auf bis zu 42 Stunden verlängern zu können. Der ver.di-Vorschlag, die längeren Arbeitszeiten in Stufen bis Ende 2007 auf das tarifliche Niveau von 38,5 Stunden zurückzuführen, stieß auf rigorose Ablehnung. Weitere Kompromissvorschläge der Gewerkschaft bei den Einmalzahlungen, im Hochschul- und Lehrerbereich führten nicht zum gewünschten Erfolg. Am 25.4. erklärte die Bundestarifkommission die Verhandlungen für gescheitert. In den folgenden Monaten gab es auf Länderebene zahlreiche Protestaktionen und Warnstreiks von ver.di. Am 28.9. einigten sich die Tarifparteien in einem Spitzengespräch darauf, erneut Verhandlungen aufzunehmen. Zu einzelnen Themen wurden Arbeitsgruppen gebildet. Bis zum Jahresende konnte jedoch kein Durchbruch erzielt werden. Stark beachtet wurde die nach eineinhalb Wochen Streik erzielte Tarifeinigung für die Unikliniken in Baden-Württemberg. Hier konnte ver.di bei der Arbeitszeit eine abgestufte Regelung durchsetzen, die ab 1.12.2005 eine 39-Stunden-Woche für Beschäftigte unter 40 Jahren, für 40- bis 55-Jährige eine 38,5-Stunden-Woche und für Ältere eine 38-Stunden-Woche vorsieht. Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden ab 2006 zusammengelegt und auf 88 % der Monatsvergütung festgelegt. "Wer kämpft, kann gewinnen", fasste ver.di das Ergebnis zusammen (Stamm/Busch 2005).

Auszug aus: WSI-Tarifbericht 2005

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