zurück

Virginia Doellgast, 17.08.2021: Gesundheitsschutz in der Pandemie: Der Kampf der Gewerkschaften in den USA

Großraumbüros, wenig Abstand, hohe Corona-Gefahr: Die Arbeitsbedingungen in Call Centern haben große Proteste in den USA ausgelöst. Gewerkschaften zeigen, wie gute Vereinbarungen in wichtigen Dienstleistungssektoren gelingen können.

Call Center drängen eine große Zahl von Beschäftigten in Großraumbüros zusammen. Sie sind berüchtigt für niedrige Löhne und stressige Arbeitsbedingungen. Es überrascht daher nicht, dass sie in den USA in die Schlagzeilen gekommen sind: als Dienstleistungsarbeitsplätze mit hohem Risiko für COVID-19-Ausbrüche. Zu Beginn der Pandemie 2020 protestierten Mitarbeiter:innen von Callcentern bei Banken, Einzelhändlern und großen BPO-Firmen (Business Process Outsourcing) gegen Arbeitgebermaßnahmen, die ihrer Einschätzung nach ihre Gesundheit gefährdeten: von schlechter Reinigung und beengten Arbeitsplätzen bis hin zu fehlender Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und begrenzten Möglichkeiten, von zu Hause aus arbeiten zu können. 

Gewerkschaftlich organisierte Callcenter verfolgten einen anderen Ansatz. Verizon, Frontier, AT&T, CenturyLink und American Airlines handelten mit der Gewerkschaft Communications Workers of America (CWA) Vereinbarungen aus, die zeitweilige Telearbeit und bezahlten Urlaub für Notfälle vorsehen. Arbeitnehmer:innen erhielten die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, wobei sich die Arbeitgeber verpflichteten, Ausrüstung bereitzustellen und für Schulungen zu sorgen. Beschäftigte, bei denen COVID-19 diagnostiziert wurde oder die unter gesundheitlichen Problemen leiden, haben Anspruch auf bezahlte Freistellung. Auch Beschäftigte, die aus anderen Gründen nicht zur Arbeit kommen können, können sich freistellen lassen, z. B. wenn sie in Staaten leben, in denen Lockdownmaßnahmen den Bewegungsradius einschränken, oder wenn die Schulen ihrer Kinder geschlossen sind.

Die CWA handelte die erste dieser Vereinbarungen Mitte März aus, noch bevor die Proteste der Beschäftigten in nicht gewerkschaftlich organisierten Call Centern Schlagzeilen machten. Sie konnten so schnell handeln, weil die Gesundheit der Beschäftigten schon lange ein zentrales Anliegen der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder ist. In einer Studie über das Wohlbefinden von Mitarbeiter:innen in US-amerikanischen Call Centern hatten Sean O'Brady und ich festgestellt, dass Burnout oder die "emotionale Erschöpfung" von Arbeitnehmer:innen im Zusammenhang mit aggressiver Leistungskontrolle und willkürlicher Disziplinierung verringert werden durch gewerkschaftliche Vereinbarungen und Maßnahmen. Diese Erfahrung gab den Gewerkschaftsvertreter:innen ein Instrumentarium zur Bewältigung der COVID-19-Krise an die Hand und ermöglichte es ihnen, sich schnell als Expert:innen für "Best-Practice"-Maßnahmen in ihrer Branche zu positionieren. Mit gesicherten Arbeitsplätzen und Rückendeckung durch die Betriebsräte werden die Beschäftigten an vorderster Front zugleich in die Lage versetzt, Sicherheitsprobleme an ihren Arbeitsplätzen zu erkennen und ihre Führungskräfte darüber zu informieren.

Die Erfahrungen der CWA in Callcentern zeigen, wie wichtig die Gewerkschaften für die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen und der Öffentlichkeit sind. In Deutschland spielen Betriebsräte und Gewerkschaften seit langem eine zentrale Rolle bei Investitionen in guten Gesundheits- und Arbeitsschutz. Während der COVID-19-Pandemie haben sie Vereinbarungen ausgehandelt und waren an der Gestaltung nationaler Maßnahmen beteiligt, die es den Beschäftigten im Dienstleistungssektor ermöglichen, von zu Hause aus zu arbeiten, vorübergehend Urlaub zu nehmen und auf sichere Weise zu arbeiten. Im Gegensatz dazu bedeutet der sehr niedrige gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA (er liegt in der Privatwirtschaft bei etwa sechs Prozent), dass die meisten Beschäftigten an vorderster Front kein kollektives Mitspracherecht bei der Aushandlung oder Überwachung der Umsetzung von Arbeitgebermaßnahmen als Reaktion auf die Pandemie hatten. Dies gilt insbesondere für die typischerweise niedriger entlohnten Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, wo die Arbeitgeber einem harten Preiswettbewerb ausgesetzt sind und die Arbeitskosten niedrig halten wollen. Wo es keine Gewerkschaften gibt, sind die Arbeitnehmer:innen gezwungen, sich mit öffentlichen Aktionen Gehör zu verschaffen, und so löste die Pandemie eine Welle von Arbeitnehmerprotesten und wilden Streiks in US-Dienstleistungsbetrieben aus.

Diese Aktionen haben in den USA die Aufmerksamkeit landesweit auf die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeber gelenkt, an vorderster Front dieser Krise in elementare Schutzausrüstungen und Sicherheitsvorkehrungen zu investieren. Die Senatorin Elizabeth Warren und der Abgeordnete Ro Khanna schlugen im Frühjahr 2020 eine "Essential Workers Bill of Rights" vor, die von den Arbeitgebern die Einführung von Maßnahmen verlangte, die denen in den CWA-Vereinbarungen sehr ähnlich sind, einschließlich genereller Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, arbeitgeberseitig organisierter Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen und des Schutzes von Tarifverträgen.

Zwar fanden nur wenige der vorgeschlagenen Maßnahmen Eingang in die COVID-Entlastungspakete, doch wurden sie zu einer Blaupause für Kampagnen, die systematischere Veränderungen anstreben, wie z. B. die von einer Koalition aus Gewerkschaften und NGOs organisierte Kampagne "Always Essential". Diese Bemühungen werden jedoch nur eine vorübergehende Wirkung haben, wenn sie nicht als Sprungbrett für Organizing genutzt werden im Zusammenhang mit weitreichenderen Reformen des US-Arbeitsrechts, die auf eine deutliche Neugewichtung der Macht der Arbeitnehmer:innen gegenüber den Arbeitgebern abzielen. Das Gesetz zum Schutz des Vereinigungsrechtes (Protecting the Right to Organize Act, PRO Act), das jüngst vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde und derzeit vom Senat geprüft wird, ist ein Schritt in diese Richtung - und stand kürzlich im Mittelpunkt einer Aktionswoche der Gewerkschaften Ende Juli.

Reformen, die darauf abzielen, die Mitspracherechte der Beschäftigten zu stärken, sollten angesichts der sich abzeichnenden Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die US-Gesetzgebung noch größere Priorität haben. Erweiterte Verhandlungsrechte und ein Rahmen für die Ausweitung von Tarifverträgen auf Branchenebene würden Beschäftigten und Arbeitgebern die Möglichkeit geben, gemeinsam Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer:innen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Beschäftigung zu entwickeln. Anstatt in jedem einzelnen Betrieb mit Protesten für persönliche Schutzausrüstungen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kämpfen, könnten die Arbeitnehmer:innen branchenweite Best Practices aushandeln. Die CWA-Vereinbarungen bei AT&T, Verizon und anderen Callcenter-Arbeitgebern sind ein Modell für diese Art von koordinierten Verhandlungen, die auf der Organisierung von und Konsultation mit den Beschäftigten an der Basis beruhen.

Vor allem aber macht die COVID-19-Pandemie deutlich, welch großen Risiken die US-Beschäftigten ausgesetzt sind, wenn sie am Arbeitsplatz keine Stimme haben. Ohne Gewerkschaftsvereinbarungen und ohne kollektive Stimme am Arbeitsplatz sind die Arbeitnehmer:innen auf den guten Willen der Arbeitgeber angewiesen, wenn es darum geht, ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen zu schützen. Dies ist aber selbst in den besten Zeiten oft nicht ausreichend. In den USA ist bereits eine steigende Zahl von Stresserkrankungen, tödlichen Verletzungen und arbeitsbedingten Selbstmorden zu verzeichnen. Die Gefahr für die öffentliche Gesundheit wird in der gegenwärtigen Krise noch klarer sichtbar. Der Unterschied zwischen gewerkschaftlich und nicht gewerkschaftlich organisierten Call Centern in Bezug auf die COVID-19-Risiken ist gravierend und zeigt, welchen entscheidenden Unterschied die Gewerkschaften ausmachen können, wenn es darum geht, die Grundrechte auf einen gesunden Arbeitsplatz auf Beschäftigte in wichtigen Dienstleistungen auszuweiten. 

Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des Artikels Essential workers need more than a Bill of Rights. They need unions, der im Worker Institute Blog der ILR School veröffentlicht worden ist.

 

Zurück zum WSI-Blog Work on Progress

Autorin

Virginia Doellgast ist Associate Professor an der School of Industrial and Labor Relations der Cornell University; Expertin für industrielle Beziehungen, spezialisiert auf Fragen der Zukunft der Arbeit und gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Seit 2021 ist sie Senior Research Fellow des WSI.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen