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Hans Hartmann, 02.07.2021: Der «Bilaterale Weg»: Vom Erfolgs- zum Auslaufmodell?

Am 26. Mai 2021 verkündete die Schweizer Landesregierung den einseitigen Abbruch der Verhandlungen zu einem institutionellen Rahmenabkommen mit der EU. Wie kam es dazu? Welche Rolle spielten die Schweizer Gewerkschaften? Und wie soll es nun weitergehen?

Personenfreizügigkeit plus Lohnschutz

Die Auseinandersetzungen um das institutionelle Verhältnis der Schweiz zur EU erlebten vor bald 30 Jahren einen ersten Höhepunkt. Unterstützt von den Wirtschaftsverbänden wollte die Schweizer Regierung mit dem EWR-Beitritt die gegenseitigen Beziehungen auf eine dauerhafte Basis stellen. Dagegen lief eine nationalkonservative Sammelbewegung um die von Christoph Blocher dominierte Schweizerische Volkspartei (SVP) Sturm.

Auf Gewerkschaftsseite gab es zwar heftige Kritik am europäischen Binnenmarkt-Projekt. Noch schwerer aber wog die Befürchtung, dass sich die Schweiz durch ein Nein zum EWR auf einen isolationistischen Kurs begeben würde. Zudem war für die Gewerkschaften klar, dass angesichts der fortschreitenden Globalisierung und des sich verschärfenden Standortwettbewerbs soziale Fortschritte langfristig nur im Verbund mit den fortschrittlichen Kräften in den anderen europäischen Ländern zu erreichen waren. Sie befürworteten darum den EWR-Beitritt – und zwar als Vorstufe für einen EU-Beitritt, der dann auch die politische Mitbestimmung beinhalten würde.

Aber nach einer hoch-emotionalen Abstimmungskampagne sprach sich am 6. Dezember 1992 eine knappe Mehrheit von 50,3 Prozent der Stimmenden gegen den EWR-Beitritt aus. Die Gewerkschaften zogen aus dieser Niederlage die richtigen Schlüsse. Eine Weiterführung des diskriminierenden fremdenpolizeilichen Migrationsregimes kam für sie jedenfalls nicht in Frage. Doch galt es die mit der Arbeitsmarktöffnung verbundenen Ängste durch lange Übergangsfristen und vor allem sozialpolitische Reformen im Innern aufzufangen. Ihre seither vertretene Formel «Personenfreizügigkeit plus Lohnschutz» grenzt sich sowohl gegen die nationalkonservative als auch gegen die neoliberale Rechte klar ab.

Diese strategische Neuausrichtung gab den Schweizer Gewerkschaften einen starken politischen Hebel gegenüber den Arbeitgeberverbänden in die Hand. Damit setzten sie in den Jahren 1998 bis 2005 ein Bündel von Lohnschutzmaßnahmen, die «Flankierenden Maßnahmen» (FlaM), zu den Bilateralen Verträgen I und II durch, und ihre Unterstützung sorgte bei den jeweiligen Volksabstimmungen für klare Ja-Mehrheiten.

Diese Abstimmungserfolge bremsten den isolationistischen «Alleingang» der Nationalkonservativen. Zudem wirkten sich die FlaM positiv auf die Arbeitsbeziehungen in der Schweiz aus. So erhöhte sich seither der Abdeckungsgrad durch Tarifverträge (in der Schweiz: Gesamtarbeitsverträge GAV). Für ganze Branchen allgemeinverbindlich erklärte GAV mit zum Teil deutlich verbesserten Mindestlöhnen sorgten dafür, dass der prekäre Tieflohnbereich klein blieb und sich die Lohnschere gegen unten nicht weiter öffnete. Sogar der gewerkschaftliche Mitgliederschwund konnte vorübergehend gestoppt werden.

Erfolgsmodell unter Druck

Die FlaM, das institutionelle Gerüst dieser Regulierungsoffensive, wurde in mehreren Wellen verstärkt. Die Gewerkschaften nutzen es für den Aufbau eines sozialpartnerschaftlichen Kontrollsystems der Arbeitsmarktkontrolle, das – ergänzt von tripartit gesteuerten Kontrollen in Bereichen ohne GAV – eine international einzigartige Kontrolldichte etabliert hat. Wie im Abkommen über die Personenfreizügigkeit (FZA) festgelegt, sichert es Löhne und Arbeitsbedingungen aller in der Schweiz Arbeitstätigen unabhängig von Pass und Aufenthaltsstatus – also nicht-diskriminierend.

Doch das Erfolgsmodell geriet aus mehreren Gründen unter Druck. Erstens musste es immer neue und z.T. auch kriminelle Entsende- bzw. Dumpingpraktiken in den Griff bekommen. Zweitens wurde es mit jedem Abstimmungssieg immer schwieriger, den Arbeitgebern neue Regulierungs- und Kontrollmaßnahmen abzutrotzen. Drittens konnten die «FlaM» die Prekarisierungstendenzen insbesondere in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen zwar einhegen, aber nicht flächendeckend brechen. Und viertens zog der boomende Schweizer Arbeitsmarkt mit seinen hohen Löhnen zunehmend auch besser qualifizierte Arbeitnehmende aus krisengeschüttelten EU-Ländern an. Dies war Munition für die fremdenfeindlichen Demagogen von rechts, obwohl die Zuwanderung lediglich der Konjunktur folgte und keineswegs durch die Personenfreizügigkeit verursacht wurde.

All dies trug dazu bei, dass die sogenannte «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP am 9. Februar 2014 eine hauchdünne Mehrheit von 50,3 Prozent der Stimmenden erzielte – gegen Regierung, Wirtschaftsverbände und alle Prognosen. Das Ergebnis war ein Hammerschlag. Der neue Verfassungstext forderte nämlich die Wiedereinführung der fremdenpolizeilichen Immigrationssteuerung durch jährliche Kontingente bzw. Höchstgrenzen und einen «Inländervorrang». Völkerrechtliche Verträge, die diesem Grundsatz widersprächen, seien innerhalb von drei Jahren neu zu verhandeln. Damit schien das Ende des Personenfreizügigkeitsabkommens und damit der bilateralen Verträge («Guilloutineklausel») gekommen.

Aber wie schon nach dem EWR-Nein machten die Gewerkschaften aus einer Abstimmungsniederlage das Beste: Während der Bundesrat tatsächlich – für die EU völlig inakzeptable – «Ausländer-Höchstkontingente» einführen wollte, brachten sie im Parlament Ende 2016 einen sogenannten «Inländervorrang light» durch. Dabei handelt es sich lediglich um einen nicht-diskriminierenden «Startvorsprung» (konkret: um einen etwas früheren Zugang zu Stellenausschreibungen in Berufen mit hoher Arbeitslosigkeit) für bei Schweizer Arbeitslosenämtern angemeldete Stellensuchenden – unabhängig von Pass und Aufenthaltsstatus.

Europäische Begehrlichkeiten

Parallel zu diesen innenpolitischen Turbulenzen veränderte sich die Perspektive der EU auf die Bilateralen Verträge. Diese wurden zunehmend als – lediglich vorübergehend akzeptable – Anomalie im Binnenmarktprojekt wahrgenommen. Mit einem solchen «Institutionellen Rahmenabkommen» sollte die «Homogenisierung» und «Vertiefung» des Binnenmarktes auch mit der Schweiz effizienter vorangetrieben werden. Gleichzeitig schränkte der Europäische Gerichtshof mit einer Reihe von arbeitgeberfreundlichen Urteilen die Kontrolle und Durchsetzung von Tarif-Löhnen und vertraglichen Arbeitsbestimmungen massiv ein.

Die Schweizer Regierung beharrte vorerst auf dem bilateralen Status quo. Erst 2013 verabschiedete der Bundesrat ein Mandat, um ein Rahmenabkommen auszuhandeln. Dabei definierte er «Rote Linien», die er nicht zu überschreiten bereit sei, darunter die bestehenden FlaM sowie die Möglichkeit künftig weitere Lohnschutzmaßnahmen ohne Intervention des EuGH ergreifen zu können. Die 2014 begonnenen Verhandlungen kamen nur schleppend voran. Die Debatte in der Schweiz wurde von der Auseinandersetzungen um die Masseinwanderungsinitiative und die Anfang 2018 lancierte «Kündigungsinitiative» dominiert, mit welcher die SVP in einem zweiten Anlauf explizit die Kündigung des Freizügigkeitsabkommen mit der EU und der flankierenden Maßnahmen erzwingen wollte.

Im Frühsommer 2018 sickerte durch, dass die Schweizer Verhandlungsdelegation unter dem neuen liberalen Außenminister Ignazio Cassis die «Rote Linie» bezüglich Lohnschutz offenbar preisgegeben hatte. Mit öffentlichen Polemiken gegen die 8-Tage-Regel (Voranmeldefrist für ausländische Entsendebetriebe) befeuerten Cassis und der ebenfalls liberale Wirtschaftsminister Schneider-Amman die daraufhin losbrechende Debatte.

Die heftige Reaktion der Gewerkschaften – im Parlament, gegenüber der Verwaltung und öffentlich mit der Kampagne «Rote Linie Arbeitnehmerrechte» - trug entscheidend dazu bei, dass der Bundesrat seine «roten Linien» öffentlich bekräftigen musste. Aber Ignazio Cassis’ Chefunterhändler Roberto Balzaretti verhandelte gegen das Mandat weiter. Der am 7. Dezember 2018 endlich publizierte Entwurf des Rahmenabkommens sah darum weiterhin eine Unterstellung der flankierenden Maßnahmen unter die Gerichtsbarkeit des EuGH vor.

Die offensichtlich übertölpelte Schweizer Regierung verzichtete «vorerst» auf eine Paraphierung des Abkommens und nahm lediglich zur Kenntnis, «dass die EU die Verhandlungen für abgeschlossen betrachtet».

Die Schweizer Gewerkschaften startete ihre Kampagne mit einem europaweiten Aufruf «Löhne statt Grenzen schützen», der innerhalb von wenigen Wochen von 2000 Akademiker*innen, Gewerkschafter*innen und MEP aus ganz Europa sowie von  Politiker*innen und Prominenten aus der Schweiz unterschrieben wurde. Hauptbotschaft: «Das Nein zum vorliegenden Rahmenabkommen ist ein Ja zu einem sozialen Europa, zur Personenfreizügigkeit und zu starken Arbeitnehmerrechten für alle»!  Der Aufruf sowie die Unterstützung durch den EGB und Gewerkschafter*innen aus angrenzenden EU-Ländern stärkten die Position der Schweizer Gewerkschaften innenpolitisch. Und im Europäischen Parlament stimmten die Abgeordneten der Linksfraktion, der Grünen und eine klare Mehrheit der Sozialdemokraten für eine positive Erwähnung der flankierenden Maßnahmen im Kommissionsbericht.

Am 7. Juni 2019 legte der Bundesrat einen «Konsultationsbericht» vor. Darin summierten sich die Bedenken der Gewerkschaften (Lohnschutz), der Kantone (Einschränkung der Staatsbeihilfen), der Bürgerlichen (UBRL) und das grundsätzliche Nein der nationalkonservativen Rechten zu einem Problemberg, den der Bundesrat nur notdürftig hinter einem Wunsch «nach weiteren Präzisierungen» verstecken konnte. Demgegenüber bleiben befürwortende Stimmen innenpolitisch marginal.

In der daraufhin folgenden «Nachspielzeit» zwischen Brüssel und Bern war über weite Strecken nicht einmal klar, ob überhaupt weiterverhandelt wurde oder ob die Delegation ihre periodischen Treffen lediglich als Stationen eines Schwarz-Peter-Spiels im Hinblick auf ein definitives Scheitern betrachteten. EU-Vertreter verhielten sich in dieser Phase bemerkenswert unkooperativ. So bezeichnete der Botschafter der Europäischen Union in Bern, Petros Mavromichalis, die Flankierenden Maßnahmen als «unverhältnismäßig» und mit den Bilateralen Verträgen «unvereinbar».

Die harte Haltung der EU-Delegation verschloss dem Bundesrat einen Ausweg aus der Sackgasse, in die er sich selber hineinmanövriert hatte. Ohne substanzielle Korrekturen war das Rahmenabkommen innenpolitisch tot – und dies, obwohl es weiterhin keine Mehrheit für die grundsätzlich EU-feindliche Position der nationalkonservativen Isolationisten gab. Letzteres zeigte sich bei der Abstimmung zur oben erwähnten SVP-Kündigungsinitiative im September 2020, welche mit tatkräftiger Unterstützung der Gewerkschaften klar abgelehnt wurde (62 Prozent Nein, bei einer für die Schweiz sehr hohen Stimmbeteiligung von fast 60 Prozent).

Autonomer Nachvollzug der sozialen Säule und neues bilaterales Vertragspaket?

Obwohl seit Monaten absehbar, warf der bundesrätliche Entscheid zum Verhandlungsabbruch vom 26. Mai 2021 dann aber doch hohe Wellen. Die SVP sah sich in ihrem «Alleingang» bestärkt. Neoliberale forderten eine Deregulierungsoffensive («Fitnessprogramm»). Bürgerliche Parteien und Arbeitgeberverbände, aber auch Teile der Linken reagierten nervös. Die Sozialdemokraten «bedauerten» den Entscheid, die Grünen bezeichneten den Verhandlungsabbruch als «unverantwortlich, mutlos und falsch» und sprachen von einem «Waterloo».

Die Gewerkschaften wiederum freuten sich einerseits über die erfolgreiche Verteidigung der flankierenden Lohnschutzmaßnahmen. Andererseits haben gerade sie keinerlei Interesse an einer Stärkung der nationalkonservativen Rechten oder an einer Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses zur EU. Die Präsident*innen der größten gewerkschaftlichen Dach- und Einzelverbände skizzierten darum in einem öffentlichen Aufruf, wie sie sich das weitere Vorgehen der Schweiz vorstellen. [1]

Kurzfristig soll demnach die Schweizer Regierung starke Kooperationssignale nach Brüssel senden. Neben der Deblockierung der Milliardenzahlung an den EU-Kohäsionsfonds und großzügigeren Investitionen in die Bildungs- und Forschungszusammenarbeit soll die Schweiz den Anschluss an zukunftsweisende EU-Projekte wie die «europäische Jugendgarantie» und den «EU Recovery Plan» suchen und sich formell für die Mitgliedschaft in der «European Labour Authority» (ELA) und in der tripartiten «Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen»" (Eurofound) bewerben.

Vor allem aber verlangen die Gewerkschaften, dass die Schweiz die Grundsätze der «Europäischen Säule sozialer Rechte» anerkennt und den Kern der darauf aufbauenden EU-Rahmengesetzgebung übernimmt. Dabei geht es um bestehende und sich in Erarbeitung befindliche Richtlinien, deren Anwendung in der Schweiz Verbesserungen bei den Mindeststandards bei Arbeitsverträgen, bei der Durchsetzung von Lohngleichheit, bei der «Elternzeit», bei der Förderung der GAV-Abdeckung, bei Mitbestimmungsrechten in Unternehmen und beim Schutz bzw. Gleichbehandlung von atypischen Arbeitsverhältnissen (Leiharbeit etc.) sowie eine Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflicht bringen würden. Nach ihrem Willen soll die Schweiz mit diesem «autonomen Nachvollzug» zeigen, dass sie dieselben arbeitsrechtlichen Standards einhält. Was der EU ja eigentlich auch im Sinne einer Homogenisierung des europäischen Binnenmarktes gefallen müsste.

Mittelfristig stellt sich die Frage nach der Weiterentwicklung des «Bilateralen Weges». Auch dazu formulieren die Gewerkschaften Perspektiven. Einerseits würden sie eine Stärkung der Aufenthaltssicherheit und der sozialen Absicherung von EU-Bürger*innen im Rahmen der Freizügigkeitsrichtlinie (Unionsbürgerrichtline) begrüßen. Allfällige Schlupflöcher z.B. für Scheinselbständige müssten dabei durch zusätzliche flankierende Maßnahmen gestopft werden – was die EU entsprechend respektieren müsste. Außerdem schlagen sie eine Angleichung der Steuerstandards vor. Sie fordern den Bundesrat auf, sich zu einem substanziellen Mindeststeuersatz bei der Unternehmenssteuer zu bekennen sowie einen Kooperationsplan für die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Geldwäscherei und Wirtschaftskriminalität vorzuschlagen.

Die Gewerkschaften müssen darauf hoffen, dass die EU-Instanzen positiv auf solche Kooperationssignale reagieren werden. Über Retorsionsmaßnahmen der EU oder gar über eine Blockade der gegenseitigen Beziehungen könnten sich jedenfalls nur die nationalkonservativen Kräfte freuen. Wie dem auch sei: Die Frage nach der Ausgestaltung der institutionellen Beziehungen wird früher oder später wieder ins Zentrum rücken. Die Schweizer Gewerkschaften tun darum gut daran, rechtzeitig mit eigenen Vorschlägen bereitzustehen, wie eine vertiefte Integration und ein wirksames schweizerisches Arbeitsmarktkontrollsystem zusammen gehen können.

 

[1] Die Schweiz muss zu einem sozialen Europa beitragen», Text von Pierre-​Yves Maillard, Adrian Wüthrich, Vania Alleva, Arno Kerst publiziert am 4. Juni 2021, vgl. auch. «Wie die Schweiz die EU zu bezirzen versucht», Tages-Anzeiger vom 4. Juni 2021. Eine Resolution ähnlichen Inhalts wurde ebenfalls am 5. Juni vom Kongress der größten Schweizer Gewerkschaft Unia verabschiedet.

Autor

Hans Hartmann ist Stabsmitarbeiter und Projektleiter für Strategie- und Organisationsentwicklung bei der Unia.

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