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A cutting department at the Kuban meat-processing plant in the Krasnodar Territory

Vladimir Bogoeski, 04.02.2021: Vom Arbeitsschutz zur Demokratisierung der Fleischwirtschaft

Das Arbeitsschutzkontrollgesetz: ein großer Fortschritt für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Der nächste Schritt: die aktive Einbeziehung aller Beschäftigten in gewerkschaftliche Strukturen und Mitbestimmung.

Im Fokus der Aufmerksamkeit steht derzeit zurecht das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz, mit dem ein Geschäftsmodell beendet werden soll, das in der deutschen Fleischwirtschaft jahrzehntelang ausbeuterische Beschäftigungsbedingungen zementiert und Arbeitnehmervertretungsstrukturen ausgehebelt hat. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen bleibt weiterhin eine vorrangige Aufgabe – sie sollte jedoch durch weitere Schritte ergänzt werden, die die Rolle der Gewerkschaften und der kollektiven Arbeitnehmervertretung stärken. Der Beitrag will aufzeigen, warum eine wirkliche Reform der deutschen Fleischwirtschaft anders nicht gelingen kann.

Seit ihrem Ausbruch vor rund einem Jahr hat die Covid-19-Pandemie binnen kurzer Zeit offengelegt, dass die komplexen Systeme, mit denen unsere tägliche Nahrung produziert wird, unter unhaltbaren Bedingungen operieren – auf Kosten von Menschen, Tieren und der Umwelt insgesamt. Als Ernten zu verrotten drohten, weil ausländische Erntehelfer*innen aufgrund von Reisebeschränkungen ausblieben, und weltweit Masseninfektionen in Fleischbetrieben publik wurden, rückte die Lebensmittelproduktion – bis dahin eher ein Randthema – plötzlich in den Fokus der öffentlichen Debatte. In Deutschland ließ sich das Infektionsgeschehen in der Fleischindustrie spätestens ab dem Tag im Juni 2020, als über 1500 Beschäftigte eines einzigen Schlachthofs des Fleischkonzerns Tönnies positiv auf das Virus getestet wurden, kaum mehr ignorieren. Es dauerte auch nicht lange, bis gravierende Missstände bei den Arbeits- und Unterbringungsbedingungen der Beschäftigten – überwiegend Wanderarbeiter*innen vom östlichen Rand Europas (Rumänien und Bulgarien) – als Hauptursache der Infektionsausbrüche erkannt wurden.

Die Ausbrüche wiederholten sich in Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsbetrieben in ganz Deutschland. Arbeitsminister Hubertus Heil reagierte zügig mit einem Konzept für verbesserten Arbeitsschutz, das im August letzten Jahres in einen Gesetzentwurf für ein Arbeitsschutzkontrollgesetz mündete. Trotz Widerständen in der Unionsfraktion, die den Entwurf fast gekippt hätten, wurde das Gesetz im Dezember verabschiedet und trat am 1. Januar 2021 in Kraft. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet im Kerngeschäft der Fleischwirtschaft den längst Branchenpraxis gewordenen Einsatz von Fremdpersonal durch Werkverträge sowie die Beschäftigung von Leiharbeiter*innen (für letztere gilt das Verbot ab dem 1. April 2021) und soll die Überwachung und Durchsetzung von Arbeitsschutzvorschriften und Arbeitnehmerrechten verbessern. Damit wird zu Recht an den Hauptursachen der Ausbeutungsstrukturen in der Fleischwirtschaft angesetzt – nämlich an der Umgehung von Arbeitsnormen und Tarifrecht durch Delegieren von Verantwortung und Haftung für Arbeitsbedingungen an undurchsichtige Arbeitskräftelieferketten. Ausreichend ist diese Reform jedoch nicht.  

Auf die Verabschiedung des Gesetzes, das – ungeachtet anhaltender Bedenken bezüglich seiner Reichweite und Wirksamkeit – eine bessere Durchsetzung von Standards und stärkeren Schutz der Beschäftigten garantiert, sollten weitere Schritte folgen, um gegen die strukturelle Ausbeutung und Subordination der Arbeitskräfte in der Fleischwirtschaft vorzugehen. Dazu muss jedoch wohl zunächst erst das etablierte Bild vom Fleischarbeiter als passivem, schutzbedürftigem Subjekt abgelöst werden von einer Anerkennung als Arbeitnehmer, der durchaus die Voraussetzungen für kollektives Handeln mitbringt. Die Kluft innerhalb der Regierungskoalition, die sich während der Bundestagsdebatte über das Arbeitsschutzkontrollgesetz auftat, könnte die Vermutung nahelegen, dass Forderungen, die Stellung von Arbeitnehmer*innen in der Fleischindustrie weiter zu verbessern, politisch aussichtslos seien. Solcher Defätismus würde jedoch denkbare Entwicklungen blockieren, die eine weitere Auseinandersetzung mit den nach wie vor höchst arbeitnehmerfeindlichen Strukturen der Fleischwirtschaft bewirken könnten.

Ungeachtet der diversen strukturellen Hürden, mit denen sich Wanderarbeitnehmer*innen konfrontiert sehen, setzen die nächsten Schritte in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft für die Arbeit in der deutschen Fleischindustrie politische und regulatorische Gedankenansätze voraus, die über reine Arbeitsschutzmaßnahmen hinausgehen und diese Beschäftigten aktiv in Strukturen kollektiver Vertretung und betrieblicher Entscheidungsfindung einbeziehen. In anderen Worten: Weitere Reformbemühungen sollten nicht weniger als die Demokratisierung der Arbeit in der Fleischindustrie zum Ziel haben.

Arbeitsschutz und Unternehmensdemokratie sind eng miteinander verwoben und lassen sich nicht einfach trennen. Dennoch haben demokratische Aspekte im Diskurs über die Fleischwirtschaft während der Pandemie vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Von inakzeptablen Arbeitsbedingungen und mangelnden Schutzvorkehrungen einmal abgesehen: Was Wanderarbeitnehmer*innen in Fleischunternehmen während der Pandemie zu einer „Wegwerf-Ressource“ gemacht hat, war ihr systematischer Ausschluss von jeglicher Form kollektiver Organisation sowie von allen Regelungsabläufen und kritischen Entscheidungsprozessen in ihren Betrieben.

Auch wenn Deutschland zu den Ländern zählt, in denen die Idee der industriellen Demokratie und der Beteiligung der Arbeitnehmer*innen an der Gestaltung des Arbeitsplatzes (Mitbestimmung) in Theorie und Praxis entwickelt wurde, ist die Fleischindustrie im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer Enklave geworden, in der solche Begriffe Fremdwörter sind – besonders im Hinblick auf Arbeitnehmer*innen vom östlichen Rand Europas, die in der Subunternehmerkette regelmäßig ganz unten rangieren.

In Verbindung mit dem Untervergabemodell – das aufgrund der Komplexität des rechtlichen Rahmens und der gängigen Geschäftspraktiken (wie Arbeitnehmerentsendung und Leiharbeit) ausbeuterische Arbeitsbedingungen geschaffen und aufrechterhalten hat – hat die generelle Ablehnung der Branche gegenüber betrieblicher Mitbestimmung und Tarifverhandlungen die industrielle und betriebliche Demokratie in der Fleischindustrie effektiv ausgeschaltet. Jahrzehntelang wurden diverse Fremdvergabemodelle eingesetzt, um einen Großteil der Arbeitskräfte aus den Tarifverhandlungen auszuschließen: Es wurde sichergestellt, dass Tarifverträge nicht für das Personal von Werkvertragsunternehmen gelten, und durch organisatorische Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Beschäftigten für Gewerkschaftsvertreter schwer zu erreichen sind. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch verschachtelte Untervergabeketten, räumliche Abschottung von Wanderarbeitnehmer*innen in abgelegenen Unterkünften, starke finanzielle Abhängigkeit und anhaltende gewerkschaftsfeindliche Taktiken bei Sub- und Hauptunternehmen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die dem Einsatz von Gewerkschaften (NGG) und Beratungsinitiativen zu verdanken sind, gab es auch auf Ebene der Subunternehmen praktisch keine Betriebsräte. Überdies machte das Werkvertragsmodell die Mehrzahl der allerschutzbedürftigsten Arbeitnehmer*innen auch für die ebenso raren Betriebsräte großer Fleischunternehmen unerreichbar. Daher fehlt es den Beschäftigten nicht nur an einer kollektiven Vertretung und an Betriebsräten, an die sie sich bei täglichen Problemen wie unwürdiger Behandlung oder Sicherheitsrisiken am Arbeitsplatz wenden können, sondern sie haben auch keine Möglichkeit, auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, die für ihr Arbeits- und Privatleben von gravierender Bedeutung sind.

Im Endergebnis hat das Untervergabemodell der deutschen Fleischwirtschaft europaweit mit seiner Abhängigkeit von den oben beschriebenen ausbeuterischen Verhältnissen zu einem Wettlauf nach unten geführt und einen gesamten Wirtschaftszweig entdemokratisiert. Der Ausschluss einer Mehrheit der Beschäftigten von den Strukturen demokratischer und tarifrechtlicher Vertretung schadet nicht nur bestimmten, als Arbeitsmigranten benachteiligten Arbeitnehmer*innen, sondern hat insgesamt die Stellung der Gewerkschaften und (sofern gegeben) Betriebsräte hinsichtlich der Formulierung und Wahrung arbeitsrechtlicher und sozialer Ziele geschwächt. Gleichzeitig hat dieser Prozess zu der klassischen, gespaltenen Arbeitswelten immanenten Aufteilung der Beschäftigten in Kern- und Randbelegschaften geführt und somit kollektive Aktionen und politische Einflussnahme durch die Arbeitnehmerschaft weiter erschwert.

Deshalb sollten die politischen Hürden, die das Arbeitsschutzkontrollgesetz überwinden musste – einschließlich der erfolglosen Eilanträge vor dem Bundesverfassungsgericht – kein Grund dafür sein, vor weiteren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen für Fleischarbeiter*innen zurückzuschrecken oder sie von vornherein als chancenlos zu betrachten. Der Fokus auf gesetzlichen Schutz für Beschäftigte, denen Rechte, Standards und menschenwürdige Behandlung am Arbeitsplatz verweigert werden, ist ein guter Anfang. Auch der Einsatz der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für einen flächendeckenden Branchentarifvertrag für die Fleischwirtschaft ist ein dringend nötiger Schritt. Eine Reform, die zu einem nachhaltigen Wandel in der Branche führen könnte, setzt jedoch ein Umdenken voraus – eine neue Sicht, die den „austauschbaren“ Fleischarbeiter nicht mehr nur als Subjekt betrachtet, das angemessenen Arbeitsschutz verdient, sondern als Subjekt, das fähig ist, sich durch aktive Beteiligung an Vertretungs-, Tarifverhandlungs- und Mitbestimmungsstrukturen für die kollektive Entkommodifizierung der Arbeit einzusetzen. Die Fleischwirtschaft ist auf Arbeitskräfte aus der östlichen Peripherie Europas angewiesen, und diese werden nun zunehmend direkt bei den großen Fleischkonzernen angestellt sein. Diese Beschäftigten müssen ihren Weg in die Gewerkschaften und Betriebsratsstrukturen finden, die es aufzubauen gilt.

Die jüngste Reform hat einen Stein ins Rollen gebracht. Es kommt nun darauf an, den Schub zu nutzen und durch Neugestaltung der Vertretungs- und Mitbestimmungsstrukturen die im Subunternehmertum wurzelnden Ausbeutungsmechanismen weiter einzudämmen. Gerade Deutschland, mit seiner weit zurückreichenden Tradition kollektiver Vertretung und Mitbestimmung, sollte bei der Demokratisierung der Arbeitswelt mit gutem Beispiel vorangehen. Seine derzeit unrühmlichste Wirtschaftsbranche wäre ein guter Startpunkt.

Neben der – in bescheidenem Umfang – verstärkten Überwachung so grundlegender Arbeitnehmerschutzstandards wie Arbeitszeiterfassung sollten die in der jüngsten Reform versprochenen Kontrollen ebenfalls darauf abzielen, grundlegende kollektive Rechte zu garantieren. Dazu gehören auch Vereinigungsfreiheit, Tarifverhandlungen sowie das Recht, einen Betriebsrat zu gründen. Die Tatsache, dass das neue Gesetz den intransparenten Vergabeketten ein Ende setzt, dürfte den Gewerkschaften den Zugang zu den Beschäftigten erleichtern und den Aufbau echter Betriebsratsstrukturen fördern, an denen sich die Wanderarbeiter*innen der Fleischindustrie beteiligen und über die sie ihre spezifischen Ansichten und Erfahrungen in betriebliche Entscheidungen einbringen können. Solche Entwicklungen könnten einer verstärkten Dekommodifizierung der Arbeit in der Fleischwirtschaft den Weg bereiten. Und erst dann wird auch den Allerschwächsten – den Tieren, die in den Fleischbetrieben getötet und verarbeitet werden – irgendwann eine bessere Behandlung zuteil werden können, was der Umwelt zugute kommen und ein erster Schritt in Richtung hin zu einer  wirklichen sozialen und ökologischen Transformation bedeuten würde.

Englische Fassung des Beitrags: Beyond protection: towards democratizing work in the meat industry


Zum Weiterlesen:

Serife Erol, Thorsten Schulten (WSI): Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie. Das Ende der "organisierten Verantwortungslosigkeit"?  WSI Report 61, 01/2021

 

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Autor

Vladimir Bogoeski ist Postdoc an der University of Amsterdam und assoziierter Forscher am Centre Marc Bloch in Berlin.

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