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Neue Studie des WSI: Fehlende Tarifbindung hat deutliche negative Konsequenzen für Löhne. Das Beispiel Brandenburg

22.04.2024

In Brandenburg arbeiten aktuell 47 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Tarifvertrag. Die Quote liegt damit etwas unter dem Bundesdurchschnitt von 49 Prozent. Wie in Deutschland insgesamt ist der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag profitieren, seit Mitte der 1990er Jahre drastisch gesunken, in Brandenburg um 30 Prozentpunkte seit 1996. Die Quote der Betriebe mit Tarifbindung beträgt in Brandenburg aktuell 19 Prozent, zwei Prozentpunkte weniger als im Bundesdurchschnitt. Sie ist bei den Betrieben generell niedriger bei den Beschäftigten, weil größere Betriebe häufiger nach Tarif zahlen als kleinere (Details siehe unten). Im europäischen Vergleich liegt Brandenburg (wie auch die Bundesrepublik insgesamt) in Puncto Tarifbindung nur im Mittelfeld, auf ähnlichem Niveau wie Kroatien, Malta oder Zypern. Eine Reihe von insbesondere westeuropäischen Ländern wie die Niederlande, Belgien, Frankreich oder Österreich weisen hingegen nach wie vor eine deutlich höhere Tarifbindung aus. Das sind Ergebnisse einer neuen Studie über „Tarifverträge und Tarifflucht in Brandenburg“, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat. Die Untersuchung wird heute in der Landespressekonferenz in Potsdam vorgestellt.

Eine fehlende Tarifbindung hat stark negative Auswirkungen auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Beschäftigte, die nicht nach Tarif bezahlt werden, verdienen in Brandenburg wie bundesweit deutlich weniger als Arbeitnehmer*innen in Betrieben mit Tarifvertrag. Im Bundesland Brandenburg beträgt der Rückstand gut 15 Prozent gegenüber tarifgebundenen Betrieben, die bei anderen für die Bezahlung zentralen Merkmalen wie Branche, Betriebsgröße oder Qualifikationsniveau der Belegschaft sehr ähnlich sind. Ohne die statistische Berücksichtigung solcher Faktoren liegt der Rückstand ohne Tarif sogar bei 27 Prozent. Für den geringeren Lohn müssen Beschäftigte ohne Tarifvertrag zudem noch etwas länger arbeiten: um durchschnittlich 19 Minuten in der Woche, wenn Branche, Betriebsgröße und andere Merkmale statistisch berücksichtigt werden. Auch wenn Betriebe angeben, sich an einem Tarifvertrag zu „orientieren“, bringt das den Beschäftigten in der Praxis wenig: Bei Berücksichtigung der zentralen Betriebsmerkmale liegen die Löhne in solchen Betrieben dann immer noch um mehr als 12 Prozent niedriger als in vergleichbaren Betrieben mit verbindlicher Tarifbindung.

In der WSI-Untersuchung werden auch verschiedene Ansätze diskutiert, wie die Tarifbindung wieder gestärkt werden kann. Dabei sind nach Analyse von Prof. Dr. Thorsten Schulten, Ko-Autor der Studie, sowohl Gewerkschaften und Unternehmerverbände gefragt als auch die Politik. Auf Landesebene in Brandenburg bieten sich eine Reihe von verbindlichen Maßnahmen an, wie beispielsweise die Überführung aller noch nicht tarifgebundenen öffentlichen Unternehmen und Beteiligungen in die Tarifbindung, die Einführung umfassender Tariftreuevorgaben ins Brandenburgische Vergabegesetz nach Berliner Vorbild sowie die Ausdehnung solcher Tariftreuereglungen auf alle Zuwendungen und Maßnahmen der Wirtschaftsförderung. „Schließlich sollte sich Brandenburg auch mit anderen Bundesländern zusammenschließen und für eine neue Bundesratsinitiative zur Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen eintreten, die ein wesentlicher Hebel zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems sein könnte“, so Schulten.

Die Studie untersucht Stand und Entwicklung der Tarifbindung in Brandenburg und ihre Auswirkung auf die Einkommens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Empirische Grundlage sind zum einen aktuelle Daten des IAB-Betriebspanels und der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes. Zum anderen wurden im Rahmen von Expert*innen-Interviews die Erfahrungen mit Tarifauseinandersetzungen verschiedener DGB-Gewerkschaften in Brandenburg analysiert.


Wesentliche Ergebnisse der Studie:

  • Tarifverträge in Brandenburg: Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sind knapp über 8.000 Tarifverträge registriert, die aktuell in Brandenburg gültig sind. Den Kern des brandenburgischen Tarifvertragssystems bilden 1.055 branchenbezogene Flächentarifverträge, darunter 533 Vergütungs- und 532 Manteltarifverträge. Hinzu kommen zahlreiche Firmentarifverträge, deren Bedeutung stetig zunimmt.
     
  • Tarifbindung insgesamt: Mit einer Tarifbindung von 47 Prozent der Beschäftigten liegt Brandenburg aktuell (Stand: 2022) zwei Prozentpunkte unter dem bundesweiten Durchschnitt. Insgesamt variiert die Tarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland zwischen 56 Prozent in Bremen und 47 Prozent in Schleswig-Holstein. In Ostdeutschland ist die Tarifbindung in der Regel noch etwas niedriger und variiert bei den Beschäftigten zwischen 51 Prozent in Sachsen-Anhalt und 43 Prozent in Berlin und Sachsen.
     
  • Trend: Wie in Deutschland insgesamt ist auch in Brandenburg die Tarifbindung über Jahrzehnte gesunken. 1996 lag sie noch bei 77 Prozent. Während in den 2000er Jahre noch Werte zwischen 50 und 60 Prozent erreicht wurden, sank die Tarifbindung Mitte der 2010erJahre unter die 50 Prozent-Marke. Seither arbeitet weniger als die Hälfte aller Beschäftigten in Betrieben mit Tarifvertrag.
     
  • Europäischer Vergleich: Brandenburg weist, wie auch Deutschland insgesamt, im europäischen Vergleich nur eine mittelmäßige Tarifbindung auf. In insgesamt 14 von 27 EU-Staaten liegt die Tarifbindung höher als in Brandenburg bzw. in Deutschland insgesamt. Acht EU-Staaten erfüllen derzeit die von der Europäischen Union in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie formulierte Zielmarke einer Tarifbindung von 80 Prozent, die Deutschland und Brandenburg um mehr als 30 Prozentpunkte verfehlen. In einigen Ländern wie z. B. Frankreich, Italien oder Österreich arbeiten sogar mehr als 90 Prozent der Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag. Dies zeige, dass die Erosion des Tarifvertragssystems keineswegs alternativlos ist, so die WSI-Tariffachleute. Auffallend ist, dass alle EU-Staaten mit einer sehr hohen Tarifbindung auf eine starke staatliche Unterstützung des Tarifvertragssystem setzen.
     
  • Branchen, Betriebsgrößen und Betriebsalter: Die Tarifbindung der Beschäftigten in Brandenburg reicht von 4 Prozent in der Land- und Forstwirtschaft bis zu annähernd 100 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Die Wahrscheinlichkeit der Tarifbindung steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während immerhin noch 32 Prozent der vor 1990 gegründete Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten Betrieben lediglich 12 Prozent.
     
  • Beschäftigtengruppen: 50 Prozent der Frauen arbeiten in Brandenburg in Betrieben mit Tarifvertrag. Bei den Männern sind es hingegen nur 44 Prozent. Die höhere Tarifbindung bei Frauen hängt vor allem damit zusammen, dass sie in Branchen mit relativ hoher Tarifbindung wie insbesondere der öffentlichen Verwaltung deutlich überrepräsentiert sind. Dies erklärt auch die mit 47 Prozent etwas höhere Tarifbindung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber 43 Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten. Von den Geringfügig Beschäftigten arbeiten hingen nur 27 Prozent in Betrieben mit Tarifvertrag.
     
  • Tarifbindung und Betriebsrat: Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In Brandenburg arbeiten nur 36 Prozent aller Beschäftigten in einem Betrieb mit Betriebs- oder Personalrat. Dies ist einer der niedrigsten Werte in ganz Deutschland. Lediglich 31 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben, die sowohl tarifgebunden sind als auch über einen Betriebsrat verfügen. Auch die Verbreitung von Betriebsräten ist in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.
     
  • Tarifbindung und Entgelt: Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist: Der generelle Rückstand beim Entgelt beträgt in Brandenburg mehr als 27 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie z. B. der Branchenzughörigkeit, der Betriebsgröße und der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten. Aber selbst wenn diese Unterschiede statistisch berücksichtigt werden, beträgt der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel noch mehr als 15 Prozent gegenüber ihren Kolleg*innen in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen. Im Bundesdurchschnitt liegt der Rückstand bei rund 10 Prozent.
     
  • Tarifbindung und Arbeitszeit: Bei den Arbeitszeiten bestehen In Brandenburg zwischen den in tarif- und den nicht tarifgebunden Betrieben auf den ersten Blick kaum Unterschiede. So liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in beiden Betriebsgruppen bei etwa 39,3 Stunden. Bei Berücksichtigung von Brancheneffekten und Betriebsgrößen zeigt sich eine leicht längere Arbeitszeit bei Betrieben ohne Tarifvertrag von etwa 19 Minuten pro Woche.
     
  • Tariforientierung: 18 Prozent der Beschäftigten in Brandenburg arbeiten in Betrieben, die zwar formell keiner Tarifbindung unterliegen, in Befragungen jedoch angeben, sich an bestehenden Branchentarifverträgen zu orientieren. Aus Sicht der Beschäftigten ist eine unverbindliche Tariforientierung jedoch kein Ersatz für eine vollwertige Tarifbindung. Dies gilt vor allem für die Entgelte, die auch in Betrieben mit Tariforientierung um etwa 12 Prozent niedriger sind als in ähnlichen Betrieben mit einem verbindlichen Tarifvertrag.
     
  • Löhne in Brandenburg im innerdeutschen Vergleich: Innerhalb von Deutschland lag das Lohnniveau im Jahr 2022 in Brandenburg nach Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt mit einem Brutto-Medianlohn von Vollzeitbeschäftigten mit 3.011 Euro im Monat auf dem viertletzten Platz. Nach wie vor bestanden zwischen Ost- und Westdeutschland erhebliche Lohnunterschiede. Mit 4.127 Euro lag der Brutto-Medianlohn in Hamburg als dem Bundesland mit dem höchsten Lohnniveau mehr als 1.100 Euro oberhalb des entsprechenden Lohns in Brandenburg.
     
  • Niedriglohnsektor: Brandenburg hat weiterhin einen relativ großen Niedriglohnsektor: Im Jahr 2022 verdienten annähernd 147.000 Vollzeitbeschäftigte im Land weniger als zwei Drittel des gesamtdeutschen Medianlohns (d. h. weniger als 2.431 Euro). Das entspricht 27,2 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten. Brandenburg liegt damit unter allen Bundesländern an vierthöchster Stelle.
     
  • Stärkung des Tarifsystems: Für eine Stärkung der Tarifbindung gibt es nicht das eine zentrale Instrument. Es ist vielmehr ein Bündel von Maßnahmen notwendig, so die WSI-Analyse. Hierbei müssen alle relevanten Akteure, d. h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Wichtig ist vor allem eine Stärkung der Tarifverbände. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssen, sind die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und die Legitimation von Tarifflucht über die OT-Mitgliedschaften (Ohne Tarifbindung) zu beenden.
     
  • Politik der brandenburgischen Landesregierung: Die Landesregierung in Brandenburg hat sich zwar immer wieder zu einer hohen Tarifbindung bekannt. Konkrete Initiativen zur Stärkung des Tarifvertragssystems sind bislang jedoch ausgeblieben. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Prüfung der Einführung einer allgemeinen Tariftreueklausel im Brandenburgische Vergabegesetz ist über die gesamte Legislaturperiode hinweg ohne Ergebnis geblieben.
     
  • Ein Aktionsplan für eine höhere Tarifbindung in Brandenburg: Um den anhaltenden Erosionsprozess des Tarifvertragssystems in Brandenburg umzukehren, müssen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Landesregierung zusammenarbeiten und aktiv für eine Stärkung der Tarifbindung eintreten, so WSI-Experte Schulten. Mit dem „Brandenburger Bündnis für Gute Arbeit“ bestehe im Prinzip bereits heute ein institutioneller Rahmen, um mit allen relevanten Akteur*innen einen konkreten Aktionsplan für ein Stärkung der Tarifbindung in Brandenburg zu entwickeln. Dieser sollte eine Reihe von verbindlichen Maßnahmen enthalten, wie z,B. die Überführung aller noch nicht tarifgebundenen öffentlichen Unternehmen und Beteiligungen in die Tarifbindung, die Einführung umfassender Tariftreuevorgaben ins Brandenburgische Vergabegesetz nach Berliner Vorbild sowie die Ausdehnung solcher Tariftreuereglungen auf alle Zuwendungen und Maßnahmen der Wirtschaftsförderung. Schließlich sollte Brandenburg auch zusammen mit anderen Bundesländern für eine neue Bundesratsinitiative zur Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen eintreten.

     

Weitere Informationen

Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Şerife Erol, Malte Lübker:
Tarifverträge und Tarifflicht in Brandenburg, WSI-Study Nr. 38, April 2024

Die Pressemitteilung mit Abbildungen

Pressemitteilung des DGB Berlin-Brandenburg zur Studienvorstellung in der Landespressekonferenz


Kontakt

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv

Dr. Malte Lübker
Referatsleiter Tarif- und Einkommensanalysen

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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