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Ernesto Klengel, 31.03.2020: (Neue) Hürden für sozialen Fortschritt?

Grundfreiheiten vs. Sozialstandards und Gesundheitsschutz? Ein Kommentar zur aktuellen Grundfreiheiten-Rechtsprechung des EuGH am Beispiel der Entscheidung Comune di Bernareggio

Der EuGH sieht sich schon lange der Kritik ausgesetzt, eine wirtschaftsliberale Linie zu verfolgen und die Interessen von Beschäftigten eher gering zu gewichten. Besonders die Entscheidungen Viking und Laval vom 11. und 18. Dezember 2007 wurden so interpretiert, dass sie wirtschaftliche Grundfreiheiten aus den Grundlagenverträgen höher gewichten als soziale Belange. In jüngster Zeit sind hingegen mehrere arbeitnehmerfreundlichere Urteile in den Blickpunkt gekommen, etwa die Entscheidung in Sachen Comisiones Obreras (CCOO) zur Arbeitszeiterfassung. Erhält die EuGH-Rechtsprechung eine soziale Dimension?

Im aktuellen HSI-Newsletter zum Europäischen Arbeitsrecht (zukünftig: HSI-Report zum Europäischen Arbeits- und Sozialrecht) sind die Urteile des EuGH zu Fragen des Arbeits- und Sozialrechts aus dem vierten Quartal 2019 ausgewertet worden. Gleich mehrere Entscheidungen in diesem Zeitraum behandeln das Verhältnis der Grundfreiheiten der EU und dem Arbeitsrecht in den Mitgliedstaaten. Neben der Dobersberger-Entscheidung (mit dem Schlussantrag des Generalanwalts beschäftigt sich der Beitrag von Susanne Wixforth im WSI-Blog) kann auch das Urteil in dem italienischen Verfahren Comune di Bernareggio (Urteil vom 19.12.2019, C-465/18) für eine Standortbestimmung herangezogen werden.

Worum ging es in dem Verfahren Comune di Bernareggio?

Die Gemeinde Bernareggio beabsichtigte, eine von ihr geführte Apotheke an einen privaten Erwerber zu verkaufen. Wird eine Apotheke privatisiert, hat nach italienischem Recht jede/r der Angestellten ein Vorkaufsrecht, kann also die Apotheke zum vereinbarten Preis übernehmen. Die Kaufinteressentin, die mit der Kommune über den Erwerb einig geworden ist, geht dann leer aus. Im Ausgangsfall ist das geschehen: Einem Angestellten der Apotheke wurde der Zuschlag erteilt, obwohl er nicht an der vorherigen Ausschreibung teilgenommen hatte. Die erfolglosen Bieter haben Rechtsmittel eingelegt. Die Sache wurde dem EuGH vorgelegt.

Nach Auffassung des EuGH ist das Vorkaufsrecht unzulässig, da es gegen die Niederlassungsfreiheit verstoße. Die Urteilsbegründung eröffnet mit der Feststellung, dass das Vorkaufsrecht Erwerber davon abhalten könnte, sich in Italien am Ausschreibungsverfahren für Apotheken zu beteiligen. Darin liege eine Einschränkung der Freiheit, Niederlassungen zu gründen. Eine Rechtfertigung sei jedoch denkbar. Die italienische Regierung hatte das Vorkaufsrecht mit dem Gesundheitsschutz verteidigt, der durch die Kontinuität der Arbeitsverhältnisse und der von den Angestellten erworbenen Erfahrung gewährleistet sei. Um dies zu widerlegen, schlägt der Gerichtshof argumentativ gleich zwei Volten:

Die Kontinuität der Beschäftigungsverhältnisse könne nicht herangezogen werden, denn hierzu diene schon die italienische Regelung zum Schutz der Beschäftigten beim Betriebsübergang (Art. 2112 des Zivilgesetzbuchs, dem Pendant zu § 613a BGB). Der EuGH geht also davon aus, dass eine gesetzliche Vorschrift, die soziale Mindeststandards setzt, ausschließt, dass eine andere Regelung dem selben Zweck dient. Ein befremdlicher Gedanke (wobei dem EuGH zugute zu halten ist, dass so bereits das italienische Gericht argumentiert hatte).

Zweitens werde das Vorkaufsrecht auch der Erfahrung der Angestellten nicht gerecht. Hierfür wäre im Einzelfall zu untersuchen, ob der oder die Angestellte tatsächlich besser geeignet sei, die Apotheke zu führen. Der Vorwurf wiegt juristisch schwer, da sich der Gerichtshof über die Wertung der demokratisch legitimierten Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber hinwegsetzt, die berechtigt sind, zu pauschalieren.

EU-Recht als Schranke für sozialen Fortschritt

Die praktischen Auswirkungen der entschiedenen Rechtsfrage dürften für Deutschland gering sein. Ähnliche Vorkaufsrechte existieren hier nicht. Die Bedeutung des Verfahrens liegt darin, aufzuzeigen, wie Unionsrecht den Mitgliedstaaten Grenzen setzt, wenn diese nicht-wirtschaftliche Ziele verfolgen. Die italienische Regierung hatte zur Rechtfertigung des Vorkaufsrechts auf den Gesundheitsschutz verwiesen. Vorkaufsrechte für Belegschaftsangehörige könnten aber auch mit dem Ziel eingeführt werden, eine mittelständische Wirtschaftsstruktur oder – die politischen Mehrheiten vorausgesetzt – Belegschaftseigentum an den Betrieben zu stärken. Im Wege des „employee buy-outs“ könnten Belegschaften von Fall zu Fall in wirtschaftlichen Krisensituationen ihren Betrieb aufkaufen und fortführen. Politisches Leitbild könnte eine „mixed economy“ sein, eine Wirtschaftsordnung, in der verschiedene Eigentumsformen nebeneinander bestehen.

Es ist aber mehr als fraglich, dass der Gerichtshof ein „sozialpolitisches“ Vorkaufsrecht akzeptiert hätte. Denn der Vorwurf, dass dieses zu pauschal wirkt, kann stets erhoben werden: Sind die Beschäftigten im konkreten Fall tatsächlich in der Lage, den Betrieb besser und nachhaltiger zu führen als ein anderer Erwerber? Auf ähnliche Weise können insbesondere die Grundfreiheiten auch in anderen Zusammenhängen gegen innovative sozialpolitischer Regulierung in Stellung gebracht werden.

Die Kritik an der langjährigen exzessiven Auslegung der Grundfreiheiten lautet: Der Gerichtshof hat die Grundfreiheiten, die sich zunächst an die Staaten richteten und es ihnen verboten, Marktteilnehmer aus dem EU-Ausland zu diskriminieren, zu subjektiven Rechten auf Deregulierung ausgebaut (so etwa Heuschmid, HSI-Newsletter 3/2017, Anmerkung zum EuGH-Urteil „Erzberger“). Die Folgen sind im Erzberger-Verfahren besonders deutlich geworden, in dem unter Rückgriff auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit praktisch die gesamte Unternehmensmitbestimmung in Deutschland angegriffen worden ist. Der EuGH hat dies mit erfreulich klaren Wort zurückgewiesen und die Reichweite der Grundfreiheiten etwas zurückgenommen: Die Tatsache, dass zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche Sozialstandards bestehen, verletze noch keine Grundfreiheit. Doch das Urteil Comune di Bernareggio zeigt erneut, dass diese juristische Figur nicht weit trägt. Der Gerichtshof hätte schließlich auch hier argumentieren können, dass ein Erwerber aus dem EU-Ausland sich nun einmal an Regeln halten muss, die der italienische Staat zur Sicherstellung der Versorgungsqualität aufgestellt hat. Der EuGH hat diesen Gedanken nicht einmal angesprochen.

Vorschläge für sozialen Fortschritt in der EU

Will man das sozialpolitische Defizit, das in der rechtlichen Verfasstheit der EU angelegt ist, ausgleichen, führt augenscheinlich kein Weg an einer Veränderung des Rechtsrahmens vorbei. Susanne Wixforth und Lukas Hochscheidt haben sich in Beiträgen auf Social Europe und in der Zeitschrift Soziale Sicherheit (Ausgabe 10/2019, S. 378) unter anderem für neue EU-weite Harmonisierungen in weiteren Bereichen der Sozialpolitik ausgesprochen. Neue Mindeststandards würden das institutionelle Interesse des Gerichtshofs an einer Stärkung des Unionsrechts darauf richten, die Tragweite der Sozialpolitik zu unterstreichen. Da aber auch solche sozialpolitischen Aktivitäten unter dem Vorbehalt der Grundfreiheiten stünden, sind zusätzliche Maßnahmen erforderlich. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat daher vorgeschlagen, die EU-Grundlagenverträge durch ein soziales Fortschrittsprotokoll zu ergänzen, das als Anlage zu den EU-Verträgen rechtsverbindlich werden soll. Das Fortschrittsprotokoll enthält ein Verbot, die Umsetzung von Unionsrecht zum Anlass für Sozialabbau zu nehmen, was allerdings bereits verbreitet Bestandteil geltenden Rechts ist. Auch das Prinzip, dass Mitgliedstaaten höhere Schutzstandards vorsehen können, ist aus dem bestehenden EU-Recht bekannt, was den EuGH jedoch nicht davon abhält, solche günstigeren Standards für unionsrechtswidrig zu erklären. Hier wäre eine Klarstellung erforderlich. In der Fallkonstellation der Comune di Bernareggio-Entscheidung stünde dann fest: Ein Mitgliedstaat, der über den Schutz der EU-Richtlinie zum Betriebsübergang hinausgeht und den Belegschaftsangehörigen ein Vorkaufsrecht gewährt, verstößt nicht gegen die Niederlassungsfreiheit.

Ein weiterer Vorschlag: Grundfreiheiten sollten (zumindest im Bereich der Sozialpolitik) so verstanden werden, wie sie ursprünglich konzipiert waren: Als Verbote der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die den Marktzugang für Marktteilnehmer aus dem EU-Ausland gewährleisten. Dem sehr umfassenden Verständnis des EuGH, jegliche Beschränkungen wirtschaftlicher Tätigkeit als Beeinträchtigung der Grundfreiheiten anzusehen, würde dann für das Arbeits- und Sozialrecht sowie Tarifverträge die Grundlage entzogen. Würde eine solche „Bereichsausnahme“ auch den Bereich der Gesundheitspolitik erfassen, wäre das Verfahren in der Sache Bernareggio aller Wahrscheinlichkeit dem EuGH erst gar nicht vorgelegt worden. Denn das Vorkaufsrecht betrifft alle Kaufinteressenten gleichermaßen, ob sie aus Italien oder dem EU-Ausland stammen. Eine Diskriminierung liegt fern.

Eine Strategie für eine gestärkte europäische Sozialrechtsordnung muss also an zwei Hebeln ansetzen: Erstens muss die strukturelle Dysbalance im Rechtsgefüge der EU ausgeglichen werden, damit erkämpfter sozialer Fortschritt nicht im Nachhinein unter Berufung auf EU-Recht und insbes. die Grundfreiheiten kassiert wird. Der Vorschlag des EGB für ein Sozialen Fortschrittsprotokolls ist hierfür eine geeignete Diskussionsgrundlage. Zweitens können daran anknüpfend weitere Bereiche des Arbeits- und Sozialrechts harmonisiert werden, indem neue Mindeststandards für Arbeits- und Lebensbedingungen verbindlich gemacht werden. Ein solches Vorgehen würde progressive Tendenzen, die in der Rechtsprechung des EuGH bereits sichtbar sind, stärken und dem Gerichtshof würde der Weg geebnet, auch für Bereiche progressive Zugänge zu finden, in denen er solche derzeit vermissen lässt.

 

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Autor

Ernesto Klengel ist wissenschaftlicher Referent für Arbeitsrecht am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit den Vorgaben des EU-Rechts für die Aufrechterhaltung von Kollektivverträgen im Zuge eines Betriebsübergangs.

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