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Daniel Seikel, 29.05.2018: Entsendung: Politik muss neue Möglichkeiten zur Begrenzung von Lohnwettbewerb nutzen

Heute stimmt das EU-Parlament der Revision der Entsenderichtlinie zu. Damit lassen sich die Arbeitsbedingungen für entsendete Beschäftigte deutlich verbessern. Nun sind Bundesregierung und Landesregierungen gefragt, entsprechende Gesetze zu erlassen.

Nach Angaben der Europäischen Kommission für 2015 werden innerhalb der EU jährlich 1,5 Mio. Entsendungen gemeldet. Deutschland ist mit 28 % aller Entsendungen das Hauptzielland entsandter Beschäftigter (siehe den Beitrag von Anke Hassel und Bettina Wagner im ifo-Schnelldienst). Die neuen Bestimmungen sind für Deutschland demnach von besonderer Bedeutung. Die Revision erweitert die bisherigen Möglichkeiten, die Arbeitsbedingungen entsendeter Beschäftigter zu verbessern. Die deutsche Politik in Bund und Ländern muss die neuen Möglichkeiten jetzt konsequent ausschöpfen – beispielsweise durch neue Landesgesetze zur Tariftreue bei der öffentlichen Auftragsvergabe.

Dass diese Einigung zustande gekommen ist, kann durchaus als Überraschung angesehen werden. Schließlich bestehen bei dem Thema Entsendung seit jeher handfeste Interessenge-gensätze zwischen Mitgliedstaaten, die besonders viele Arbeitskräfte vorübergehend zur Erbringung von Dienstleistungen in andere Länder entsenden und Mitgliedstaaten, die besonders viele entsendete Arbeitskräfte empfangen.

Was ist das Problem der Entsendung? Die Schwierigkeiten rühren aus dem „Herkunftslandprinzip“. Demnach richten sich die Arbeitsbedingungen entsandter Arbeitskräfte nach dem Arbeitsrecht und den Lohnbestimmungen des Entsende- und nicht des Empfängerlandes. Dadurch entstehen im Empfängerland „Inseln“, auf denen nicht das nationale – zum Beispiel das Deutsche oder Schwedische –, sondern das ausländische Arbeitsrecht gilt, etwa das Lettische oder Bulgarische. Verschärft wird die Situation durch die erheblichen Unterschiede arbeitsrechtlicher Standards, Lohnniveaus und Sozialabgaben zwischen EU-Mitgliedstaaten. So reichen in der EU die durchschnittlichen Arbeitskosten pro Stunde von 4,90 Euro in Bulgarien bis zu 42,50 Euro in Dänemark. In Deutschland liegen die Arbeitskosten im Schnitt bei 34,10 Euro pro Stunde. Nicht anders verhält es sich mit den Lohnnebenkosten. In Malta schlagen diese mit einem Anteil von nur 6,7% an den gesamten Arbeitskosten zu Buche. In Frankreich hingegen beläuft sich der Anteil der Lohnnebenkosten auf 32,8%, in Deutschland auf 22,6%. Daher ist die Frage, nach welchen mitgliedstaatlichen Standards sich die Arbeitsbedingungen entsandter Beschäftigter richten, alles andere als trivial. Im europäischen Binnenmarkt nutzen Entsende- wie Vergabeunternehmen diese Unterschiede aus, um sich auf Grundlage niedriger Löhne und auch Lohnnebenkosten Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dieses Vorgehen ist wohlgemerkt legal und durch europäisches Recht verbrieft. In der Folge entsteht ein Lohnwettbewerb, der einheimische Beschäftigte direkt mit entsendeten Arbeitskräften in Konkurrenz setzt. Das nationale Arbeits- und Sozialrecht, aber auch das Tarifvertragssystem von Ländern mit hohen Lohn- und Sozialniveaus gerät dadurch unter Druck.

Bereits die Originalrichtlinie von 1996 hatte Mindeststandards etabliert, die auf entsendete Arbeitskräfte anzuwenden waren, von denen die Mitgliedstaaten aber auch zu Gunsten besserer Standards abweichen durften. Jedoch schränkten einige Urteile des Europäischen Gerichtshofes in den 2000er Jahren die nationalen Möglichkeiten zu Regulierung von Lohnwettbewerb drastisch ein (siehe hier). Der Gerichtshof hatte kurzerhand die Mindest- zu Höchststandards uminterpretiert, von denen die Mitgliedstaaten nicht mehr nach oben abweichen durften. Wo keine gesetzlichen Mindestlöhne existierten und keine tarifvertraglichen Mindestlöhne allgemeinverbindlich erklärt waren, kam es praktisch zu einem unkontrollierten Lohnunterbietungswettbewerb. Seitdem kämpfen Gewerkschaften und linke Parteien für eine politische Korrektur dieser Rechtsprechung.

Nach langem Ringen können diese Bemühungen nun einen großen Erfolg verbuchen. War in der alten Richtlinie noch von Mindestlohnsätzen die Rede, die auf entsendete Arbeitskräfte zu übertragen waren, wurde dieser Begriff nun durch den Begriff der Entlohnung ersetzt. Dies erweitert die zwingend auf entsandte Arbeitskräfte anzuwenden Lohnbestandteile um Zuschläge und Zulagen, beispielsweise für Nacht- und Feiertagsarbeit. Im Bausektor kann dies einen Unterschied von drei bis vier Euro pro Stunden ausmachen. Außerdem erlaubt die neue Entsenderichtlinie, repräsentative Tarifverträge auf entsendete Arbeitskräfte anzuwenden. Diese Möglichkeit war zuvor den skandinavischen Ländern vorbehalten, die weder über gesetzliche Mindestlöhne noch über ein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung verfügen.

In Deutschland hat die Politik dadurch endlich effektivere Mittel zur Verfügung, mit denen sie die Arbeitsbedingungen entsendeter Arbeitskräfte deutlich verbessern und zugleich Lohnwettbewerb begrenzen kann. Die neue Entsenderichtlinie macht sogar den Weg frei, ganze Tarifverträge in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen. Somit kann nun also das gesamte Tarifgitter eines Tarifvertrages – und nicht nur die tarifvertraglich vereinbarten Mindestsätze – vorgeschrieben werden. Überdies können die Bundesländer nun wieder Tariftreue-Regelungen für die öffentliche Auftragsvergabe einführen, das heißt, Anbieterfirmen die Einhaltung lokal geltender Tarifverträge bei der Ausführung öffentlicher Aufträge vorschreiben. Auch dies hatte der EuGH verboten (siehe hier). Beide Maßnahmen würden auch einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems leisten. Einen Überblick über derzeit geltende vergabespezifische Mindestlöhne bietet das WSI-Tarifarchiv.

Mit der Revision der Entsenderichtlinie hat der europäische Gesetzgeber den Ball in das Feld der nationalen Politik zurück gespielt. Nachdem durch die Revision einige europarechtliche Beschränkungen wegfallen, ist es nun eine Frage des politischen Willens, ob die neuen Möglichkeiten zur Begrenzung von Lohnwettbewerb auch ergriffen werden. Es ist jetzt an der Bundesregierung und den Landesregierungen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen.

 

Autor

Dr. Daniel Seikel studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Philipps-Universität Marburg und der Universidad Autónoma Madrid. 2013 promovierte er am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Integration durch Recht und Economic Governance. Seit 2013 Referatsleiter Europapolitik am WSI.

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