zurück

Reinhard Bispinck, 09.01.2020: Die Zehnerjahre in der Tarifpolitik: eine Bilanz mit Ausblick

Das Jahr 2019 zeigt eine positive Bilanz der Tarifpolitik: Tariflöhne und -gehälter stiegen um 2,9 Prozent, das bedeutet einen realen Lohnzuwachs von 1,5 Prozent. Damit setzt sich die gute Entwicklung der Vorjahre fort. Doch wie fällt die Gesamtbilanz der Zehnerjahre aus?

Die Tarifpolitik der vergangenen zehn Jahre startete mit einer mehrfachen Vorbelastung: In den 2000er Jahren hatte das Tarifsystem unter dem erheblichem Deregulierungsdruck seitens der Politik und den massiven Flexibilisierungsforderungen der Arbeitgeber stark gelitten, die Lohnentwicklung war äußerst moderat verlaufen, hinzu kamen Rückschläge etwa in der Arbeitszeitpolitik, wo ein Arbeitskampf in der ostdeutschen Metallindustrie für die Angleichung an die im Westen geltende 35-Stunden-Woche scheiterte.

In der Krise Beschäftigungssicherung

Hinzu kam der schwere Wirtschaftseinbruch aufgrund der Finanzkrise 2008/2009, der tarifpolitisch nicht ohne Folgen blieb. Die Tarifentwicklung reagierte mit zeitlicher Verzögerung auf die wirtschaftliche Entwicklung. So fielen die Lohn- und Gehaltsforderungen der Gewerkschaften 2010 zurückhaltend aus. In einer Reihe von Branchen verzichteten sie auf eine quantifizierte Forderung. Die IG Metall beschränkte sich beispielsweise auf die Forderung nach einer „Realeinkommenssicherung“.

Die Tarifpolitik konzentrierte sich vor allem auf die Beschäftigungssicherung. In der Metallindustrie und der chemischen Industrie wurden die Möglichkeiten tariflicher Kurzarbeit stark ausgeweitet. Die Tarifsteigerungen fielen deutlich niedriger aus als in den Vorjahren, zum Teil wurden lediglich Pauschalzahlungen vereinbart. Für alle Beteiligten überraschend gelang es auf Betriebs- und Unternehmensebene durch den flexiblen Einsatz von Kurzarbeit und die umfassende Nutzung von Arbeitszeitkonten den Beschäftigungsabbau in der Industrie zumindest für die Stammbelegschaften stark zu begrenzen. Doch bereits 2011 bewegte sich die Tarifpolitik nach der unerwartet starken wirtschaftlichen Erholung im Vorjahr wieder in normalem Fahrwasser.

Kräftige Reallohnsteigerungen

Die tariflichen Lohnrunden führten ab 2012 zu kontinuierlich verbesserten Ergebnissen. Die Tarifsteigerungen brachten reale Einkommenszuwächse und schöpften auch den verteilungsneutralen Spielraum von Preis- und Produktivitätszuwachs aus oder lagen sogar darüber (siehe Abbildung). In der Folge erholte sich die Lohnquote, also der Anteil der Lohneinkommen am gesamten Volkseinkommen, nachdem sie in der ersten Hälfte der 2000er Jahre drastisch gesunken war.

Grafik zum Download (png)
Daten zum Download (xlsx)

Aufwertung von Arbeit, Entlastung, Renaissance der Arbeitszeit

In der Tarifpolitik gab es neue Schwerpunkte und Auseinandersetzungen. Eine zentrale Rolle spielte in verschiedenen Tarifauseinandersetzungen die Aufwertung der Care-Arbeit, insbesondere der Tätigkeiten im Sozial- und Erziehungsdienst und im Gesundheitswesen. 2015 führte ver.di einen mehr als vierwöchigen Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, dessen Ergebnis allerdings aus Sicht der Gewerkschaft noch keine befriedigende Aufwertung darstellte. Im Gesundheitswesen ging es ver.di in einigen Tarifrunden auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. An der Berliner Charité, an verschiedenen Uni-Kliniken in Baden-Württemberg, im Saarland und in NRW und darüber hinaus fanden erfolgreiche Streikauseinandersetzungen um Entlastungstarifverträge mit verbesserter Personalbesetzung in der Pflege statt. Sie waren Bestandteil einer längerfristigen bundesweiten Kampagne zum Pflegebereich.

Die Tarifpolitik war zudem gekennzeichnet von einer Rückkehr der Arbeitszeit auf die tarifpolitische Agenda. 2016 gelang es der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft bei der Deutschen Bahn AG ein tarifliches Optionsmodell mit der Wahl zwischen Entgelterhöhung, längerem Urlaub oder wöchentlicher Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Die IG Metall setzte im Jahr 2018 mit intensiven Warnstreiks ein Recht auf befristete Teilzeit mit Rückkehrrecht durch sowie ebenfalls ein Wahlmodell mit mehr freien Tagen für Schichtarbeiter:innen und für Beschäftigte mit Kindern oder Pflegeaufgaben. Flexible Arbeitszeitmodelle mit erweiterten Zeitrechten der Beschäftigten spielten auch in Tarifabschlüssen in der chemischen Industrie, bei der Deutschen Post und in anderen Branchen eine Rolle. In einigen Branchen (Metallindustrie und Textilindustrie Ost) war auch die Verkürzung der Wochenarbeitszeit und ihre Anpassung an die kürzeren westdeutschen Standards Gegenstand von Tarifverhandlungen.

Zu nennen ist auch die tarifliche Sozialpolitik: Hier konnte die IG BCE 2019 in der chemischen Industrie erstmals eine tariflich geregelte Pflegezusatzversicherung abschließen und damit das ohnehin bereits breite Spektrum sozialpolitischer Regelungen in Tarifverträgen noch einmal erweitern.

Mindestlohn

Ein bereits seit langem schwelendes Thema war im vergangenen Jahrzehnt der stark gewachsene Niedriglohnsektor, den die Tarifpolitik vor dem Hintergrund der Deregulierung des Arbeitsmarktes nicht wirksam hatte begrenzen können. Auch die politische Diskussion um seine Eindämmung kam zunächst nicht von der Stelle. Während der konservativ-liberalen Bundesregierung von 2009 - 2013 konnten zwar in einigen Wirtschaftszweigen weitere branchenbezogene Mindestlöhne eingeführt werden, aber erst mit dem Amtsantritt der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD Ende 2013 erreichten die Gewerkschaften ihr Ziel: einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. 2014 verabschiedet trat das Mindestlohngesetz Anfang 2015 mit einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde in Kraft. Damit gelang ein sozialpolitisch bedeutsames Reformprojekt, allerdings auf zunächst bescheidenem Ausgangsniveau. Mit 8,50 Euro lag Deutschland auf dem letzten Platz in der Gruppe der westeuropäischen Länder, wo sich die Mindestlöhne damals zwischen 8,65 Euro in Irland, 9,21 Euro in den Niederlanden, 9,61 Euro in Frankreich und 11,12 Euro in Luxemburg bewegten. Fünf Jahre nach der Einführung ist die Bilanz positiv: Vor allem Frauen, gering Qualifizierte und Beschäftigte in Ostdeutschland profitierten. Negative Folgen für Beschäftigung gab es trotz vielfältiger Kassandrarufe aus konservativen Ökonomenkreisen nicht. Auch tarifpolitisch hatte der Mindestlohn positive Wirkungen. Manche Tarifverträge in Niedriglohnbranchen konnten wiederbelebt werden und die Tariflohngruppen teilweise auch oberhalb des Mindestlohns angehoben werden. Inzwischen wurde der Mindestlohn in nachlaufender Orientierung an der Tarifentwicklung Anfang 2017 auf 8,84 Euro und 2019 auf 9,19 Euro angehoben. Seit Anfang 2020 beträgt er 9,35 Euro. Die Kritik am nach wie vor relativ niedrigen Niveau des Mindestlohns von weniger als 50 Prozent des mittleren Lohnes (Median) wurde im Laufe der Jahre lauter.

Tarifautonomiestärkungsgesetz

Auf die anhaltende Erosion des Tarifvertragssystems, die sich in einer kontinuierlich abnehmenden Tarifbindung äußerte, reagierte die Bundesregierung 2014 mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz. Es erweiterte den Geltungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen, sodass die Einführung branchenbezogener tarifliche Mindestlöhne sehr viel leichter zu bewerkstelligen war. Heute existieren solche Mindestlöhne für zwölf Branchen und Tarifbereiche in einer Höhe zwischen zehn und 16 Euro.

Außerdem erleichterte das Gesetz die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, indem im Tarifvertragsgesetz das bislang erforderliche Quorum einer Tarifbindung von mindestens 50 Prozent der Beschäftigten gestrichen wurde. Voraussetzung einer Allgemeinverbindlicherklärung ist seitdem nur noch, dass sie „im öffentlichen Interesse geboten“ erscheint. Auf die Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen hat dies allerdings bislang keine positiven Auswirkungen gehabt. Die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge verharrt auf sehr niedrigem Niveau, neue Allgemeinverbindlicherklärung gibt es nur in wenigen Fällen. Nach wie vor bleibt den Arbeitgebervertretern im Tarifausschuss des Bundes bzw. der Länder ein faktisches Vetorecht.

Im Jahr 2015 trat das Tarifeinheitsgesetz in Kraft. Mit diesem Gesetz reagierte der Gesetzgeber auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 2010, in dem dieses – unter Änderung seiner Rechtsprechung – die Existenz mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb nebeneinander zuließ (Tarifpluralität). Das Tarifeinheitsgesetz zielt darauf ab, eine Tarifkollision im Betrieb vermeiden. Es sieht vor, die Tarifeinheit in einem Betrieb im Konfliktfall nach dem Mehrheitsprinzip herzustellen. Künftig soll im Konfliktfall nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Das Gesetz stieß auf scharfe Kritik insbesondere der Berufs- und Spartengewerkschaften (Marburger Bund, Deutscher Beamtenbund Tarifunion, Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Vereinigung Cockpit) und einzelner DGB-Gewerkschaften. Sie erhoben Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen die Tarifautonomie. Das BVerfG erklärte das Gesetz jedoch für „weitgehend vereinbar“ mit dem Grundgesetz und forderte lediglich eine Nachbesserung des Gesetzes. In der tarifpolitischen Praxis hat das Gesetz bislang keine erkennbaren Folgen gehabt.

Ausblick

Die tarifpolitische Bilanz der Zehnerjahre fällt insgesamt positiv aus: Die Abschlüsse der Lohnrunden haben die Tarifeinkommen real kräftig gesteigert und die Verteilungsposition der Arbeitnehmer:innen deutlich verbessert. Die Renaissance der Arbeitszeitpolitik hat ebenfalls Erfolge gezeitigt und die Gewerkschaften haben auch weitere qualitative Themen auf die Tagesordnung gesetzt.

Trotz dieser erfreulichen Entwicklung der Tarifpolitik gibt es aber auch Anlass zur Sorge. Zwar ist die Zahl der gültigen Tarifverträge mit mehr als 70.000 so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik und auch die jährlich mehr als 5.000 neu abgeschlossenen Tarifverträge signalisieren eine lebhafte Aktivität der tarifpolitischen Akteure. Doch die Reichweite des Tarifvertragssystems nimmt nach wie vor ab. Es arbeiten nur noch rund 55 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung. Viele Branchen, insbesondere in Ostdeutschland, haben eine Tarifbindung von weniger als 30 Prozent. Und das klassische deutsche Modell betrieblicher Arbeitsbeziehungen mit einer Kombination von Branchentarifvertrag und Betriebsrat gilt in der privaten Wirtschaft nur noch für ein knappes Viertel der Beschäftigten. Eine grundlegende Umkehr ist bislang nicht in Sicht.

Die zentrale Frage lautet daher, wie der Trend gebrochen und dem Tarifvertragssystem zu neuer Stärke verholfen werden kann. Die Antworten der Tarifvertragsparteien gehen weit auseinander. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände schlug anlässlich des 100. Jahrestages der Tarifvertragsordnung vor, die Tarifbindung durch weitere Dezentralisierung, Modularisierung und Verbetrieblichung der Tarifpolitik zu erhöhen; ein Rezept, das bereits in den vergangenen 20 Jahren seine behauptete Wirkung verfehlt hat und vermutlich die Fragmentierung des Tarifsystems weiter vorantreiben würde. Die Gewerkschaften verfolgen seit geraumer Zeit eine Doppelstrategie: durch Entfaltung eigener Machtressourcen eigene betriebliche und tarifpolitische Stärke von unten aufzubauen und zugleich durch politische Stützungsmaßnahmen das Tarifvertragssystem von oben zu stabilisieren. Einzelne Beispiele zeigen, dass dieses Vorgehen Erfolge bringen kann. Verbesserungen auf breiter Front stehen noch aus. Und ob die Politik die konkreten Vorschläge zur Stärkung des Tarifsystems positiv aufgreifen wird, steht dahin.

Dies gilt auch für die sehr lebhafte Diskussion um die Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohns. Inzwischen gibt es in der Politik und der Gesellschaft einen breiten Konsens, den Mindestlohn armutsfest zu machen. Nimmt man als Richtwert ein Niveau von 60 Prozent des mittleren Lohnes, dann müsste der Mindestlohn mindestens auf 12 Euro angehoben werden, so wie es u. a. die Gewerkschaften, SPD, Linke und Grüne einheitlich fordern. Vorschläge, dies etwa in einem überschaubaren Stufenplan von drei Schritten zu realisieren, liegen vor. Notwendig ist dazu eine politische Entscheidung des Gesetzgebers. Die ohnehin vorgesehene Evaluation des Mindestlohngesetzes in diesem Jahr bietet eine günstige Gelegenheit. Auf ihrem ureigenen Feld der Tarifpolitik können die Gewerkschaften selbst verteilungspolitische Akzente setzen und tun dies auch. Ein Beispiel liefert die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Sie fordert in der aktuellen Tarifrunde der Systemgastronomie, einer notorischen Niedriglohnbranche, einen untersten Tariflohn von zwölf Euro. Das Jahr 2020 wird zeigen, ob ein größerer Fortschritt in der Verteilungsfrage möglich ist – in der Tarifpolitik wie auch beim gesetzlichen Mindestlohn.

Zum Weiterlesen:

Bispinck, R. (2019a): Drei Schritte zu einem armutsfesten Mindestlohn, in: Gegenblende, 08.11.2019

Bispinck, R. (2019b): 70 Jahre Tarifvertragsgesetz: Stationen der Tarifpolitik von 1949 bis 2019 (pdf). Reihe: Elemente qualitativer Tarifpolitik 85, Düsseldorf, April 2019

Lübker, M./Schulten, T. (2019): Tarifbindung in den Bundesländern – Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten (pdf). Reihe: Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 86, Düsseldorf Oktober 2019

Schulten, T. (2019): Wie weiter mit dem Mindestlohn? In: WSI-Mitteilungen 6/2019, S. 465-466

WSI-Tarifarchiv (2019): Tarifbilanz des WSI-Tarifarchivs: Tariflöhne steigen 2019 um 3,0 Prozent(pdf). WSI-Pressedienst vom 10.12.2019

WSI-Tarifarchiv: Tarifrunden 2010–2019: Kündigungstermine, Forderungen, Abschlüsse, Analysen

 

Autor

Dr. Reinhard Bispinck, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln, Promotion 1986. Ab 1979 wissenschaftlicher Referent am WSI, von 1989 bis 2017 Leiter des WSI-Tarifarchivs, 2013 bis 2017 Abteilungsleiter des WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Tarifpolitik, Industrielle Beziehungen, Sozialpolitik.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen