Quelle: Matthias Merz | Fotografenherz
Freddy Adjan/Johannes Specht, 07.12.2022: Das Tarifjahr 2023 aus Sicht der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)
Für die Gewerkschaft NGG stehen 2023 wichtige Tarifrunden an. Weitsicht hat Priorität: Ziel sind tabellenwirksame Lohnerhöhungen und eine Lohnuntergrenze von 13 Euro, um den Abstand zum Mindestlohn auch zukünftig auszubauen.
Mit einer Rekordinflation von über acht Prozent für das Gesamtjahr 2022 und kaum Aussicht auf deutlich niedrigere Inflationszahlen für 2023 stehen alle Tarifverhandlungen aktuell vor nicht gekannten Herausforderungen. Dazu kommen – je nach Branche sehr unterschiedliche – reale oder für die nächsten Monate erwartete Produktionsrückgänge aufgrund von gestörten Lieferketten und einer schwächelnden Konjunktur. Die Lebensmittelindustrie, mit einem Umsatz von 185 Milliarden Euro und 600.000 Arbeitsplätzen die viertgrößte Industriebranche Deutschlands, ist jedoch seit Jahren stabil, das hat sich auch in den zurückliegenden Wirtschafts- und Finanzkrisen und während der Coronapandemie gezeigt.
Für die Gewerkschaft NGG stehen 2023 etliche wichtige Tarifrunden an: Den Auftakt machen die Verhandlungen über den Unternehmenstarifvertrag bei Coca-Cola, die Flächentarifverhandlungen der Brauwirtschaft und die bundesweiten Verhandlungen für die Zuckerindustrie. Zum Frühlingsbeginn folgen die Ländertarifrunden der Brotindustrie, mit den marktbeherrschenden Konzernen Lieken und Harry Brot, sowie die parallelen Tarifrunden für die Beschäftigten der Schlachtkonzerne Vion und Westfleisch ab dem Frühsommer und eine erstmalig kombinierte, bundesweite Entgeltrunde in der Süßwarenindustrie mit ihren 50.000 Beschäftigten. Die Ernährungswirtschaft Sachsen startet schon zum Jahresbeginn in die ersten Verhandlungsrunden, die Ländertarifverträge in der Milchwirtschaft laufen zwischen Februar und Sommer 2023 aus und ab dem Frühjahr werden auch die Flächentarifverträge für die Mineralbrunnen- und Erfrischungsgetränkeindustrie neu verhandelt. In neun Bundesländern stehen über das Jahr verteilt Verhandlungen im Gastgewerbe an – dort sind es die ersten Tarifrunden nach den außergewöhnlichen „Anpassungsverhandlungen“ auf Grund der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro. Dazu kommen noch weitere Flächen-, Haus- oder Unternehmenstarifverträge aus allen Teilbranchen der Ernährungsindustrie und des Lebensmittelhandwerks. In etlichen dieser Tarifgebiete wurden die zurückliegenden Tarifabschlüsse erst nach Warnstreikwellen erreicht.
In dieser Situation hat der Hauptvorstand, das höchste ehrenamtliche Entscheidungsgremium der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Mitte November die Forderungsempfehlung für das Tarifjahr 2023 diskutiert und beschlossen. Den Tarifkommissionen für die Haus-, Unternehmens- und Flächentarifverträge wird empfohlen, Entgelterhöhungen von 10 bis 12 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten zu fordern, die als tabellenwirksame Erhöhungen dauerhaft zur Steigerung der Lohntabellen beitragen. Außerdem hat der Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG erstmals eine tariflich zu erreichende Lohnuntergrenze festgelegt: Im Jahr 2023 sollen alle Einstiegslöhne auf mindestens 13 Euro angehoben werden, um einen klaren Abstand zum gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro zu schaffen.
Für den Bereich der Auszubildenden wird die Empfehlung ausgegeben, eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung in Festbeträgen um mindestens 200 Euro je Ausbildungsjahr zu fordern. Zusätzlich soll ein Fahrtkostenzuschuss zur Berufsschule vereinbart werden, sowie die unbefristete Übernahme nach der Ausbildung im erlernten Beruf und die Auszahlung von Sonderzahlungen auch an Auszubildende in voller Höhe.
Darüber hinaus bleibt es den einzelnen Tarifkommissionen vorbehalten, weitere tarifpolitische Themen anzugehen und z. B. die Erhöhung der verpflichtenden Arbeitgeberbeiträge für die tarifliche Altersvorsorge, die Einführung von Berufsunfähigkeitsversicherungen, wie zuletzt in der Milchwirtschaft in Bayern erfolgreich durchgesetzt, oder neue Arbeitszeitmodelle zu fordern.
Tabellenwirksame Erhöhungen haben Priorität
Mit der Inflationsausgleichsprämie, also der Möglichkeit für Unternehmen, bis zu 3.000 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei an ihre Beschäftigten auszuzahlen, hat die Bundesregierung die schon aus 2020 – 2022 bekannte Coronaprämie neu aufgelegt. Dabei hat sie die Summe verdoppelt und den möglichen Auszahlungszeitraum bis Ende 2024 verlängert. Das erklärte Ziel: eine Entlastung für Beschäftigte, die durch Einmalzahlungen zusätzlich zum Arbeitslohn einen Teil der angestiegenen Kosten für Lebensmittel, Heizen und Strom so etwas abfedern können. Gleichzeitig ist die Inflationsausgleichsprämie auch eine Entlastung für Unternehmen, die auf den ausgezahlten Betrag keine Sozialversicherungsabgaben leisten müssen. Als Effekt gehen damit dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen Beiträge verloren. Es ist zudem anzunehmen, dass von der Zahlung einer Inflationsprämie in hohem Maße Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen profitieren werden. Menschen, die in nicht-tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, und ganz besonders jene in prekären Beschäftigungsverhältnissen, werden diese Prämie hingegen deutlich seltener bekommen und kaum in der vollen Höhe von 3.000 Euro.
In den kommenden Tarifverhandlungen ist die Inflationsausgleichsprämie allerdings ein „süßes Gift“. Eine möglichst hohe, steuerfreie Zahlung freut jede*n Beschäftigte*n und wird ohne Frage von vielen Menschen dringend benötigt. Wenn diese Einmalzahlung aber anstatt einer üblicherweise vereinbarten Steigerung der Lohntabelle gezahlt wird, dann zementiert das den Kaufkraftverlust durch die hohe Inflation noch weiter. Jede Steigerung der Lohntabelle, die wir im Tarifjahr 2023 erreichen, wirkt hingegen dauerhaft und wird in den Folgejahren mit Zins- und Zinseszins aufsummiert, sodass auch eine hohe Einmalzahlung über kurz oder lang mehr als ausgeglichen wird. Jeder Euro in der Lohntabelle erhöht die Rente, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und in vielen Tarifverträgen auch das Weihnachts- und Urlaubsgeld, wenn es als bestimmter Prozentsatz des Monatslohns gezahlt wird.
Deshalb lautet die tarifpolitische Empfehlung der NGG für 2023, die Steigerung der Lohntabelle ins Zentrum der Forderungen zu stellen und sich in den Tarifkämpfen auf möglichst hohe Abschlüsse zu konzentrieren. Wir gehen aber davon aus, dass die Arbeitgeberseite überall versuchen wird, statt hoher Tabellensteigerungen die Inflationsausgleichsprämie anzubieten. Aus ihrer Sicht wäre das dann eine goldene Tarifrunde: Die Lohntabelle würde nicht oder nur wenig steigen, die zukünftigen Lohnverhandlungen des Jahres 2024 würden auf den aktuellen Werten von 2022 ansetzen. Nur: Auch die Inflation des Jahres 2023 ist die Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Auf die acht Prozent Teuerung im laufenden Jahr setzt die Inflation des nächsten Jahres auf. Schon mit den Tarifabschlüssen, die in 2022 wirksam wurden, erleiden aktuell viele Menschen einen spürbaren Kaufkraftverlust – viele dieser Tarifverträge, die zum Beispiel eine zweite Erhöhungsstufe in 2022 vorsehen, waren schon 2021 oder vor der deutlichen Inflationssteigerung seit März dieses Jahres abgeschlossen worden.
Vor diesem Hintergrund sollte eine Inflationsprämie aus Sicht der NGG als freiwillige, nicht-tarifierte Leistung von Unternehmen zur Auszahlung kommen, oder aber als Bestandteil von Tarifabschlüssen vereinbart werden, der zusätzlich zu hohen Tabellensteigerungen gezahlt wird. In diese Richtung gehen schon die Abschlüsse bei den vier Tabakkonzernen British American Tobacco (BAT), Japan Tobacco International (JTI), Reemtsma und Philip Morris für die etwa 8.000 Beschäftigten der Branche: Dort konnten im Oktober 2022 Steigerungen der Entgelte von sechs Prozent, rückwirkend ab September mit Laufzeiten von 14 bzw. 15 Monaten erreicht werden. Die Inflationsausgleichsprämie kommt noch dazu und wird in einer Höhe zwischen 2.400 und 2.600 Euro monatlich gestückelt oder auf einen Schlag ausbezahlt.
Die Tariflogik der Konzentration auf die dauerhafte Tabellenerhöhung in den vielen, einzelnen Tarifverhandlungen durchzusetzen und auch in der Mitgliedschaft zu diskutieren und dafür zu werben, wird Grundvoraussetzung sein, um das Ziel hoher Tabellenabschlüsse erreichen zu können. Und oftmals wird es nicht ohne Streiks gehen.
Mindestlohn und Einstiegslöhne von „13 Euro mindestens“
Die erstmalige Etablierung einer Tarifuntergrenze bei der NGG ist eine direkte Folge der positiven Erfahrungen aus der jüngsten Mindestlohnanhebung auf 12 Euro und den Dynamiken, die das in einigen NGG-Tarifbereichen ausgelöst hat. Die Ankündigung von Olaf Scholz noch in der Nacht der Bundestagswahl im September 2021, die außerordentliche Anhebung des Mindestlohnes auf 12 Euro im Jahr 2022 zu einer prioritären Aufgabe der Bundesregierung zu machen, stellte bei der Gewerkschaft NGG einen nicht kleinen Teil der Tarifverträge vor die Situation, binnen weniger Monate in einer oder mehreren Entgeltgruppen „überholt“ zu werden.
Die Gewerkschaft NGG hat aktuell 505 Entgelttarifverträge, davon knapp 1/3 Flächen- und 2/3 Haus- oder Unternehmenstarifverträge. Zum Jahresbeginn 2022 gab es noch in 40 Prozent dieser Tarifverträge eine oder mehrere Entgeltgruppen unter 12 Euro. Das sagt aber erst einmal nichts darüber aus, ob und wenn ja, wie viele Beschäftigte in diesen Einstiegslohngruppen überhaupt eingruppiert waren. Die Umsetzung der Maßgabe, alle noch ausstehenden Entgelttarifverträge bis zur Mindestlohnanhebung am 1. Oktober 2022 nicht nur auf dieses neue unterste Lohnniveau, sondern darüber zu heben, hat in allen Tarifverhandlungen des Jahres 2022 durchweg sehr gut funktioniert. Zum Stichtag waren es statt 40 nur noch 15 Prozent aller Tarifverträge bei NGG, in denen Einstiegslöhne unter 12 Euro standen – allesamt in Tarifverträgen, die vor der Bundestagswahl vom September 2021 abgeschlossen wurden und erst wieder 2023 oder 2024 zur Neuverhandlung stehen.
In etlichen Entgelttarifverträgen waren nur geringe, etwas erhöhte Anpassungen in der untersten Lohngruppe nötig, weil hier die 12 Euro schon vorher bis auf wenige Cent pro Stunde erreicht worden waren. Das ist durchgehend in den regulär anstehenden Tarifrunden ohne große Auseinandersetzungen vereinbart worden. Auch viele Unternehmen und Arbeitgeberverbände haben ein erhebliches Interesse daran, ihre Tarifverträge vom Mindestlohn abzusetzen: „Bei der Firma X fängst du immer mit dem Mindestlohn an“ ist in Zeiten von zunehmendem Wettbewerb um Arbeitskräfte im Niedriglohnbereich auch für weite Teile der tarifgebundenen Unternehmerschaft nicht attraktiv.
In einigen Tarifbereichen aber hätte der Mindestlohn von 12 Euro nicht nur den Einstiegslohn, sondern gleich bis zu drei Entgeltgruppen eingeholt, eher in der Dienstleistung als in der Industrie und deutlich mehr in Haus- als in Flächentarifverträgen, so z.B. im Gastgewerbe, in den Unternehmenstarifverträgen der Caterer Eurest, Aramark, Sodexo und SSP, im Fleisch- und im Bäckerhandwerk und in einigen Haustarifverträgen.
Hier bedeutete eine Anhebung über die 12 Euro durchweg zweistellige prozentuale Steigerungen in den Einstiegslohngruppen, in einigen Tarifgebieten sogar bis um die 30 Prozent. Es ist gelungen, oft nach heftigen Tarifverhandlungen, aber dann überall gemeinsam mit der jeweiligen Arbeitgeberseite, alle vom neuen Mindestlohn betroffenen Entgeltgruppen über die 12 Euro anzuheben. In etlichen Tarifabschlüssen wurde eine weitere Erhöhung der Entgelte während der Laufzeit der Tarifverträge vereinbart, was den Abstand zum Mindestlohn weiter ausbauen dürfte.
Dass es in allen offenen Tarifverträgen zu einem Neuabschluss kam, ist bemerkenswert. Noch zu Jahresbeginn war nicht absehbar, ob NGG und Arbeitgeberverbände oder Unternehmensleitungen angesichts der Anpassungsaufgabe, die der höhere Mindestlohn stellte, überhaupt zu einer Einigung über einen Lohntarifvertrag finden würden – oder ob ganze Tarifgebiete deswegen verloren gehen könnten. Die tarifpolitische Bilanz der Mindestlohnanhebung auf 12 Euro beweist, zumindest für den Bereich der Gewerkschaft NGG, eine große Stabilität der bestehenden Aushandlungs- und Tarifsysteme und hat eindeutig zu einer Stärkung der Tarifstrukturen beigetragen.
Bemerkenswert ist auch, dass es in vielen Fällen gelungen ist, die hohe Anhebung der unteren Einstiegslöhne auch für mittlere und obere Entgeltgruppen zu erreichen – mit dem Effekt, dass das komplette Tarifraster eine Steigerung von 15, 25 oder sogar bis zu 30 Prozent erfährt. [1] Ob und wie diese Anhebung des gesamten Lohnrasters erreicht und modelliert werden konnte, war der Kern in diesen Auseinandersetzungen. Hier zeigte sich, dass es keinen Automatismus gab. Beide Tarifparteien konnten sich in den Ergebnissen auf jeweils sehr unterschiedliche Lösungen einigen: von Anhebungen der ganzen Tabelle im selben Verhältnis der Entgeltgruppen zueinander, über gestaffelte Anhebungen, die zu einer Stauchung in den oberen Entgeltgruppen führen, bis zu einer kompletten Neuausrichtung des Entgeltrasters inklusive einer Überarbeitung der Tätigkeitsmerkmale, Aufstiegsmöglichkeiten für Beschäftigte und Diskriminierungsfreiheit (hier sind die Gastgewerbe-Tarifverträge in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gute Beispiele). Der neue Mindestlohn war die staatliche gesetzte Vorgabe, aber was daraus folgt, wie es umgesetzt wird, war ein langer, teils heftiger, aber im Ergebnis konstruktiver Aushandlungsprozess der Tarifparteien – und weder ein „Einheitslohn“ noch ein „Angriff auf die Tarifautonomie“, wie es Gegner des Mindestlohns behaupten.
Mit der Empfehlung, alle Einstiegsentgelte in 2023 über die 13 Euro zu heben, soll der tarifpolitische Weg fortgesetzt werden: den Abstand zum Mindestlohn nicht nur halten, sondern weiter ausbauen. Denn zum 1.1.2024 wird die nächste reguläre Erhöhung des Mindestlohnes anstehen. Den Vorschlag dazu wird die Mindestlohnkommission im Sommer 2023 unterbreiten. Das Tarifjahr 2023 bietet also die Chance, den Abstand auf den jetzigen Mindestlohn so auszubauen, dass das Einstiegsentgelt nicht gleich wieder von dem dann neuen Mindestlohn 2014 eingeholt wird.
Zusammen mit der Empfehlung, alle Entgelte um die „Marke 10-12 Prozent“ tabellenwirksam, also dauerhaft anzuheben, sind ambitionierte Ziele für die Tarifkommissionen und Gewerkschaftsmitglieder ausgerufen. Sehr klar ist: Ohne die Aktions- und Streikfähigkeit unserer Mitglieder in den Betrieben, die im Bereich der NGG in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist, werden sich diese Tarifziele kaum erreichen lassen.
[1] Diese lohnpolitische Aufwertung ganzer Branchen hat neben dem Druck des höheren Mindestlohnes auch mit dem Arbeits- und Fachkräftewettbewerb zu tun. Für das Gastgewerbe haben Schulten/Specht die Tarifrunden der Jahre 2021/2022 und die Dynamik des Mindestlohnes analysiert: Schulten, Thorsten/Specht, Johannes (2022): Tarifpolitischer Aufbruch im Gastgewerbe? Analysen zur Tarifpolitik Nr. 91, Düsseldorf
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Autoren
Freddy Adjan ist seit 2018 stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft NGG.
Dr. Johannes Specht ist Leiter der Tarifabteilung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG