zurück
Hessen, Bundesland, Landkarte, Industriestandort, Arbeit - Tarifbindung Pressemitteilungen

Neue Studie des WSI: Tarifbindung in Hessen aktuell bei 51 Prozent – Unzureichendes Vergabe- und Tariftreuegesetz hinkt der Entwicklung in anderen Bundesländern hinterher

05.07.2023

In Hessen arbeiten aktuell 51 Prozent aller Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag. Das Bundesland weist damit zwar immer noch eine der höchsten Tarifbindungen in Deutschland aus. Diese liegt jedoch nur knapp über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 49 Prozent. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag profitieren, zudem von über 80 Prozent auf gegenwärtig nur noch rund die Hälfte aller Beschäftigten gesunken. Die Quote der Betriebe mit Tarifbindung beträgt in Hessen aktuell 21 Prozent, was dem deutschen Durchschnitt entspricht. Sie ist bei den Betrieben generell niedriger bei den Beschäftigten, weil vor allem größere Betriebe nach Tarif zahlen. Im europäischen Vergleich liegt Hessen (wie auch Deutschland insgesamt) nur noch im Mittelfeld. Eine Reihe von insbesondere westeuropäischen Ländern wie die Niederlande, Belgien, Frankreich oder Österreich weisen hingegen nach wie vor eine deutlich höhere Tarifbindung aus. Das sind Ergebnisse einer neuen Studie über „Tarifverträge und Tarifflucht in Hessen“, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat. Die Untersuchung wird heute auf einer Pressekonferenz in Frankfurt a.M. vorgestellt.

Die sinkende Tarifbindung hat deutliche Konsequenzen für die Löhne und Arbeitsbedingungen. Beschäftigte, die nicht nach Tarif bezahlt werden, verdienen deutlich weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen mit Tariflöhnen. Im Bundesland Hessen beträgt der Rückstand über 8 Prozent gegenüber tarifgebundenen Betrieben, die bei anderen für die Bezahlung zentralen Merkmalen wie Branche, Größe oder Qualifikationsniveau der Belegschaft sehr ähnlich sind. Ohne die statistische Berücksichtigung solcher Faktoren liegt der Rückstand ohne Tarif sogar bei über 18 Prozent. Zudem ist mit Tarifvertrag die durchschnittliche Arbeitszeit spürbar kürzer: um durchschnittlich 50 Minuten in der Woche.

In der WSI-Studie werden auch verschiedene Ansätze diskutiert, wie die Tarifbindung wieder gestärkt werden kann. Auf Landesebene bieten sich hierbei vor allem die öffentliche Auftragsvergabe und die regionale Wirtschaftsförderung an, wo die Anwendung von Tarifverträgen zu einer Voraussetzung für den Erhalt öffentlicher Gelder erklärt werden kann. „Mit der Reform des Landesvergabegesetzes im Jahr 2021 hat die hessische Landesregierung jedoch die Chance verpasst, für alle öffentlichen Aufträge eine Tariftreuerklärung zu verlangen“, sagt Prof. Dr. Thorsten Schulten, einer der Ko-Autoren der Studie. „Immer mehr Bundesländer haben in ihren Vergabegesetzen umfassende Tariftreueregelungen eingeführt. Auch Hessen sollte dahinter nicht länger zurückstehen“, so Schulten.

Die vorliegende Studie untersucht Stand und Entwicklung der Tarifbindung in Hessen und ihre Auswirkung auf die Einkommens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Empirische Grundlage sind zum einen Daten des IAB-Betriebspanels, zum anderen aus der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes. Darüber hinaus wurden im Rahmen von Expert*innen-Interviews die Erfahrungen mit Tarifauseinandersetzungen verschiedener DGB-Gewerkschaften in Hessen analysiert.

Wesentliche Ergebnisse der Studie:

Tarifverträge in Hessen: Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sind knapp über 8.000 Tarifverträge registriert, die aktuell in Hessen Gültigkeit haben. Den Kern des hessischen Tarifvertragssystems bilden fast 1.100 branchenbezogene Flächentarifverträge, darunter 573 Vergütungs- und 512 Manteltarifverträge. Hinzu kommen zahlreiche Firmentarifverträge, deren Bedeutung stetig zunimmt.

Tarifbindung insgesamt: Mit einer Tarifbindung von 51 Prozent der Beschäftigten liegt Hessen aktuell (Stand: 2022) nur noch leicht über dem bundesweiten Durchschnitt von 49 Prozent. Bei den Betrieben findet sich Hessen mit einer Tarifbindung von 21 Prozent exakt auf dem bundesweiten Durchschnittsniveau. Insgesamt variiert die Tarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland zwischen 56 Prozent in Bremen und 47 Prozent in Schleswig-Holstein. In Ostdeutschland ist die Tarifbindung im Mittel noch einmal niedriger und variiert bei den Beschäftigten zwischen 51 Prozent in Sachsen-Anhalt und 43 Prozent in Berlin und Sachsen.

Trend: Wie in Deutschland insgesamt ist auch in Hessen die Tarifbindung der Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre stark gesunken. 1996 lag sie noch bei 83 Prozent, ging seither jedoch kontinuierlich zurück. Während in den 2000er Jahre noch Werte zwischen 65 und 70 Prozent erreicht wurden, sank die Tarifbindung seit Mitte der 2010erJahre unter die 60 Prozent-Marke. Der rückläufige Trend hat sich seither sogar noch einmal verstärkt, so dass gegenwärtig nur noch wenig mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Hessen in Unternehmen mit Tarifvertrag arbeitet.

Branchen, Betriebsgrößen und Betriebsalter: Die Tarifbindung der Beschäftigten in Hessen reicht von 20 Prozent im Gastgewerbe und der Land- und Forstwirtschaft bis zu annähernd 100 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Die Wahrscheinlichkeit der Tarifbindung steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während noch 40 Prozent der vor 1990 gegründete Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten Betrieben lediglich 17 Prozent.

Regionale Unterschiede: Im Hinblick auf die Tarifbindung bestehen innerhalb Hessens auch bedeutsame regionale Unterschiede. Während im Regierungsbezirk Kassel 32 Prozent aller Betriebe über einen Tarifvertrag verfügen, sind es im Regierungsbezirk Gießen lediglich 25 Prozent und im Regierungsbezirk Darmstadt 23 Prozent.

Beschäftigtengruppen: Zwischen Frauen und Männern zeigen sich bei der Tarifbindung in Hessen kaum Unterschiede. Deutlich größer fallen die Differenzen zwischen Vollzeitbeschäftigten (57 Prozent), Teilzeitbeschäftigten (51 Prozent) und geringfügig Beschäftigten (35 Prozent) aus. Auszubildende arbeiten mit 63 Prozent überdurchschnittlich häufig in tarifgebundenen Unternehmen, offenbar besteht also ein deutlicher Zusammenhang zwischen Tarifbindung und Fachkräftesicherung.

Tarifbindung und Betriebsrat: Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In Hessen arbeiten allerdings nur 48 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat. Lediglich 40 Prozent sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie bei der Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.

Europäischer Vergleich: Hessen weist wie auch Deutschland insgesamt im europäischen Vergleich keine besonders hohe Tarifbindung auf. In vielen westeuropäischen Ländern sind nach wie vor mehr als drei Viertel aller Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen tätig. In Ländern wie z. B. Frankreich, Italien oder Österreich sind es sogar mehr als 90 Prozent. Dies zeigt, dass die Erosion des Tarifvertragssystems keineswegs alternativlos ist. Mit einer Tarifbindung von 51 Prozent liegt Hessen derzeit auf einem ähnlichen Niveau wie Malta. Insgesamt verfügen 13 EU-Staaten über einen höhere Tarifbindung als Hessen.

Tarifbindung und Arbeitszeit: In Hessen arbeiten die Beschäftigten in Unternehmen ohne Tarifvertrag im Durchschnitt pro Woche 40 Minuten länger als ihre Kolleg*innen in Betrieben mit Tarifvertrag. Bereinigt um die unterschiedlichen Strukturen von tarif- und nicht tarifgebundenen Unternehmen erhöht sich das Tarif-Gap sogar auf 50 Minuten.

Tarifbindung und Entgelt: Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist: Der unbereinigte Rückstand beim Entgelt beträgt in Hessen mehr als 18 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie z. B. der Branchenzughörigkeit, der Betriebsgröße und der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten. Aber selbst, wenn diese Unterschiede statistisch berücksichtigt werden, beträgt der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel noch mehr als acht Prozent gegenüber ihren Kolleg*innen in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen.

Tariforientierung: 22 Prozent der Beschäftigten in Hessen arbeiten in Betrieben, die zwar formell keiner Tarifbindung unterliegen, in Unternehmensbefragungen jedoch angeben, sich an bestehenden Branchentarifverträgen zu orientieren. Aus Sicht der Beschäftigten ist eine unverbindliche Tariforientierung jedoch kein Ersatz für eine vollwertige Tarifbindung, zeigt die WSI-Analyse. Dies gilt vor allem für die Entgelte, die auch in Betrieben mit Tariforientierung deutlich niedriger sind als in ähnlichen Betrieben mit einem verbindlichen Tarifvertrag.

Löhne in Hessen im innerdeutschen Vergleich: Innerhalb von Deutschland liegt das Lohnniveau in Hessen nach Hamburg und Baden-Württemberg mit einem Brutto-Medianlohn von 3.799 Euro im Monat an dritter Stelle. Letzteres liegt neben der im innerdeutschen Vergleich immer noch relativ hohen Tarifbindung vor allem an der besonderen Wirtschaftsstruktur Hessens, darunter insbesondere dem starken Gewicht von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen.

Niedriglohnsektor: Hessen hat gleichwohl auch einen erheblichen Niedriglohnsektor: Im Jahr 2020 erhielten gut 260.000 Vollzeitbeschäftigte im Land weniger als zwei Drittel des gesamtdeutschen Medianlohns (d. h. weniger als 2.344 Euro). Das entspricht 15,2 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten. Hessen liegt damit etwas unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt von 18,1 Prozent.

Stärkung des Tarifsystems: Für eine Stärkung der Tarifbindung gibt es nicht das eine zentrale Instrument. Es ist vielmehr ein Bündel von Maßnahmen notwendig, so das WSI. Hierbei müssten alle relevanten Akteure, d. h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Wichtig sei vor allem eine Stärkung der Tarifverbände. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssen, sind die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und die Legitimation von Tarifflucht über die OT-Mitgliedschaften (ohne Tarifbindung) zu beenden.

Politik der hessischen Landesregierung: Von Seiten des Landes Hessen gab es in den letzten Jahren keine nennenswerten Initiativen zur Stärkung der Tarifbindung. Bei der Reform des Hessischen Vergabegesetzes 2021 wurde im Gegenteil die Chance verpasst, dem bundesweiten Trend zu folgen und umfassende Tariftreueregelungen einzuführen. Ähnliches gilt für die regionale Wirtschaftsförderung, wo es die Landesregierung bislang abgelehnt hat, die Tarifbindung als Förderkriterium zu akzeptieren. Schließlich hat sich die hessische Landeregierung auch gegen eine Bundesratsinitiative zur Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ausgesprochen, die ein wesentlicher Hebel zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems sein könnte.

Weitere Informationen:

Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Malte Lübker: Tarifverträge und Tarifflicht und Hessen, WSI-Study Nr. 35, Juli 2023

Die Pressemitteilung mit Abbildungen (pdf)


Kontakt:

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv

Dr. Malte Lübker
WSI-Portal Lohnspiegel.de

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen