Syrovatka, Felix : Von staatlicher Delegation zur Privatautonomie: Paradigmen und Liberalisierung im Tarifrecht
DOI: 10.5771/0342-300X-2025-4-271
Seiten 271-279
Zusammenfassung
Während die Tarifautonomie bis in die 1990er Jahre rechtsdogmatisch als „staatlich delegierte Normsetzungsbefugnis“ verstanden wurde, definiert die herrschende Meinung der Rechtswissenschaft sie heute als „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“. Dieser Wandel markiert den Übergang von einer staatszentrierten zu einer liberal-individualistischen Perspektive auf die Tarifautonomie. Der Artikel analysiert diesen Paradigmenwechsel im deutschen Tarifvertragsrecht und zeigt, wie sich das liberale Rechtsparadigma seit den 1970er Jahren sowohl gegenüber dem herrschenden etatistischen als auch gegenüber dem herausfordernden sozial-demokratischen Rechtsparadigma durchsetzen konnte. Verstanden als Liberalisierungsprozess innerhalb des Tarifrechts förderte der Paradigmenwechsel eine Re-Individualisierung des Tarifrechts und untergräbt die solidarischen Grundlagen des Tarifsystems. Damit leistet der Artikel einen kritischen Beitrag zur Debatte um die Krise des Flächentarifvertrags und zeigt die Ambivalenz der „freiheitlichen“ Tarifvertragskonzeption für die Arbeitsbeziehungen.
Schlagworte: Tarifpolitik, Tarifbindung, Industrielle Beziehungen, Recht
Abstract
Legal dogma defined collective bargaining autonomy as “the delegation of legislative powers” well into the 1990s. Today, according to the prevailing opinion in jurisprudence, it is seen as “collectively exercised private autonomy”. This paradigm shift marks the transition from a state-centred to a liberal-individualistic view on collective bargaining autonomy. The article analyses this shift in German collective labour law and demonstrates how the liberal legal paradigm, since the 1970s, has prevailed over both the dominant etatist and the contending social-democratic paradigms. Understood as a process of liberalisation, this paradigm shift fostered a re-individualisation of collective bargaining law, undermining the solidaristic foundations of the collective bargaining system. The article contributes critically to the debate around the crisis faced by collective bargaining in Germany, revealing the ambivalent role of “liberal” collective bargaining concepts in labour relations.