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Anke Hassel, 14.06.2018: Heimatverlust ist nicht nur ein ostdeutsches Phänomen

Gefühle von Fremdheit und Unsicherheit haben in den vergangenen Jahren viele Menschen erfasst. Der Ausweg liegt nicht in Allianzen des Identitären gegen die Mehrheitsgesellschaft, sondern in einer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die für mehr Gewissheit, Wertschätzung und Chancen sorgt.

Sind Ostdeutsche irgendwie auch Migranten? In der taz am wochenende vom 12./13. Mai vertrat die Migrationsforscherin Naika Foroutan die These, dass Ostdeutsche von ihrem Land verlassen worden und daher auch in gewissem Sinne Migranten seien. Im weiteren Verlauf des Interviews ging es dann aber noch um mehr: um das Verhältnis der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu Ostdeutschen und Migranten, das von Überlegenheitsanmaßung beziehungsweise mangelnder Anerkennung („Jammer-Ossis“) gekennzeichnet sei und Ähnlichkeiten mit ausländerfeindlichen Einstellungen aufweise. Eine interessante These, die spontan von vielen älteren Ostdeutschen geteilt wird. Aber wie weit trägt sie? Und was bezweckt sie? 

Zunächst haben die beiden Themen „Migrationserfahrung“ und „ostdeutsche Identität“ eine starke Gemeinsamkeit: Die deutsche Wiedervereinigung und das Eingeständnis, in einer Einwanderungsgesellschaft zu leben, trafen beide die deutsche Gesellschaft unvorbereitet und wie ein Schock. Aus der gemütlichen und weitgehend homogenen Welt der westdeutschen Bundesrepublik einerseits und der DDR anderseits wurde in den letzten drei Jahrzehnten eine multikulturelle, regional stark ausdifferenzierte, weitgehend säkulare sowie verunsicherte Wohlstandsgesellschaft.

Das gilt im Übrigen für Ost- wie Westdeutschland. Nicht nur die Ostdeutschen haben ihre Heimat verloren und haben Sehnsuchtsorte und Fremdheitsgefühle. Breite Gesellschaftsschichten in Deutschland sehen sich heute in ihren Heimatstädten und Gemeinden um und entdecken einen tiefgreifenden Wandel. Stadtteile und ganze Städte sind erblüht (dazu gehören eine Reihe ostdeutscher Städte), andere verelenden vor unseren Augen, zum Beispiel im Ruhrgebiet.

Frühere Gewissheiten, etwa über den Wert beruflicher Bildung, sind in dem Maße abhandengekommen, wie sich der Niedriglohnsektor auch in qualifizierten Berufen ausgebreitet hat. Das Arbeitsleben ist unsicherer geworden und wir erleben trotz Vollbeschäftigung einen großen Diskussionsbedarf über Themen wie soziale Gerechtigkeit, Pflegenotstand und die Verwahrlosung öffentlicher Infrastruktur, aber auch Wohnungsknappheit und Armut. Die Frage nach Anerkennung, Lebensleistung und Abwertung trifft daher eine große Gruppe Deutscher und hat nicht wenig zum Wahlerfolg der AfD in Ost- und Westdeutschland beigetragen.

Dieser Befund soll nicht die spezifischen Formen der Diskriminierung von Ostdeutschen und Migranten unter den Teppich kehren, denn die gibt es in der Tat. Im Vergleich zu vielen anderen Einwanderungsgesellschaften der OECD tut sich Deutschland schwerer damit, Migranten der zweiten und dritten Generation einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Die Gründe dafür sind nicht so schwer zu finden: Es hat mit der Schulstruktur zu tun, mit der Herkunft der Migranten, dem fehlenden Einwanderungsgesetz und dem stärker familienorientierten statt staatlich organisierten Sozialsystem, das der Familie eine große Bürde für die Entwicklung ihrer Kinder aufhalst. Die angelsächsischen Einwanderungsländer mit ihren generalistischen Bildungssystemen und einer stärkeren Auswahl der Einwanderer tun sich da erheblich leichter.

Brüche im Lebenslauf

Gleichzeitig wissen wir auch, dass mindestens zwei ostdeutsche Generationen den Verlust ihrer Qualifikationen verkraften und mit praktisch keinem geerbten Vermögen in ihr neues Leben im vereinten Deutschland starten mussten. Dies führte zu Brüchen im Lebenslauf und zu schlechteren Ausgangsbedingungen, die dann durch selbstbewusste „Besserwessis“ auch fraglos ausgebeutet wurden. Viele, die im Westen nicht reüssieren konnten, haben im Osten eine zweite Karriere gemacht – nur weil sie ein westdeutsches Diplom mitbrachten. Diese Erfahrungen waren und sind zweifelsohne bitter und ungerecht.

Allerdings sollte man diese Erfahrungen nicht in dem ganz großen Diskurs über Identität und Fremdheit aufgehen lassen. Wohin man nur schaut, sieht man im ganzen Land Debatten über Identitäten, Zugehörigkeit, Fremdheit und Heimat, aber auch Vorurteile, Diskriminierung und Teilhabe. Die CSU hat ein Heimatministerium kreiert und hängt Kreuze in bayerischen Amtsstuben auf, während junge Musliminnen auf das Recht, ihren Referendardienst mit Kopftuch absolvieren zu können, klagen.

Gleichzeitig ist die Zusammensetzung des Bundestags so männlich wie schon lange nicht mehr, weder im Wirtschaftsministerium noch im Heimatministerium findet sich auf der Ebene der Staatssekretäre eine Frau, und Ostdeutsche wie auch Deutsche mit Migrationshintergrund finden sich im Kabinett fast nicht wieder. Schon jetzt hat die Verunsicherung der Gesellschaft in der Politik zu einem Backlash geführt: die AfD sät ihr Gift der Spaltung gegen die Errungenschaften von Feminismus, MenschenrechtsaktivistInnen und die multikulturelle Gesellschaft – und es setzt eine Gewöhnung an einen verrohten Umgangston in der Politik ein.

Ein lebensverändernder Einschnitt

Ist eine noch stärkere Betonung von Gruppenzugehörigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und eine Allianz der vermeintlich und tat­sächlich Heimatlosen die Antwort darauf? Sollte man Entwicklungen positiv kommentieren, in denen Migranten der dritten Generation ihr vorrangiges Selbstverständnis aus der Migrationserfahrung ihrer Großeltern beziehen? Sollte man Ostdeutsche ermuntern sich in ähnlicher Weise auf ihre Geburt oder ihre Familiengeschichte in Ostdeutschland zu konzentrieren? Sollten die heute erwachsenen Ostdeutschen sich für ihre Identität auf den ohne Zweifel lebensverändernden Einschnitt der deutschen Einheit, der die Welt ihrer Eltern von Grund auf ins Wanken brachte, fokussieren? Sollten die heimatlos gewordenen Westdeutschen, die am Niedriglohnsektor in ihrer Region verzweifeln oder die aufgrund hoher Mieten aus ihrer Geburtsstadt wegziehen müssen, ihre eigene Heimatlosigkeit zu einer eigenen Identität der sozial Vertriebenen machen?

Ohne die sozialen, ethnischen oder regionalen Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten leugnen zu wollen oder zu können, ist der Weg nicht die Allianz der Minderheiten gegen eine vermeintlich homogene und überlegene Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr leben wir alle mit verschiedenen, widersprüchlichen und sich überlappenden Identitäten, die uns für eine gegenseitige Öffnung sensibilisieren sollten anstatt für die Schließung. Ob ich mich als Weiße, Frau, Christin, Mutter, Westdeutsche oder als Arbeiterkind sehe, ist primär meine Entscheidung und wird mir nur zum Teil durch gesellschaftliche Zuschreibung nahegelegt.

Diese Entscheidung ist jedoch wichtig für mein eigenes Selbstwertgefühl im Hinblick auf die eigene Verletzbarkeit gegenüber Diskriminierung und Abwertung. Sie ist zudem relevant für Fragen der Solidarisierung mit anderen und für die politische Mobilisierbarkeit. Wir brauchen alle mehr Gewissheit als Unsicherheit, mehr Wertschätzung als Abwertung und mehr soziale Chancen als Diskriminierung. Das Mittel dazu sind bessere Schulen, mehr Sensibilität und Bildung wie auch bessere Arbeitsbedingungen, Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, gute Löhne und Fairness in der Gesellschaft. Dann würden sich viele Fragen der Identität ganz anders stellen.


Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der taz - die tageszeitung". Der Beitrag ist erstmals hier erschienen.

 

Autor

Prof. Dr. Anke Hassel ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin. Sie lehrte und forschte unter anderem am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und der Hertie School of Governance in Berlin. Seit September 2016 ist sie Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

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