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Malte Lübker, 16.04.2021: Soziale Unwucht

Im Corona-Jahr sind die Nominallöhne in Deutschland um 0,7 % gesunken. Der Rückgang mag moderat erscheinen – die Sprengkraft dieser Entwicklung liegt aber in ihrer sozialen Unwucht: Fachkräfte sowie An- und Ungelernte haben die größten Einbußen.

Den meisten Zeitungen war die Meldung nur eine Randnotiz wert: Im Corona-Jahr 2020 sind die Nominallöhne in Deutschland um 0,7 % gesunken, der erste Rückgang seit Beginn der Vierteljährlichen Verdiensterhebung im Jahr 2007. Angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen des vergangenen Jahres mag der Rückgang moderat erscheinen – selbst nach Abzug der Inflation schrumpften die Reallöhne „nur“ um 1,1 %. Die eigentliche Sprengkraft der Lohnentwicklung liegt in ihrer sozialen Unwucht. Diese zeigt sich, wenn man die Daten des Statistischen Bundesamtes (2021a) nach Leistungsgruppen aufschlüsselt: Am oberen Rand der Lohnverteilung – bei Arbeitnehmer:innen in leitender Stellung (+0,2 %) und herausgehobenen Fachkräften (‑0,2 %) – waren zumindest die Nominallöhne weitgehend stabil. Deutliche Lohneinbußen gab es bei Fachkräften (‑1,2 %), den Angelernten (‑2,5 %) sowie den Ungelernten (‑1,6 %).

Die amtliche Statistik bestätigt damit einen Befund, der sich auch aus Bevölkerungsbefragungen ergibt: Krisenbedingte Verdiensteinbußen treffen insbesondere diejenigen, die auch schon vorher wenig hatten (Kohlrausch/Zucco/Hövermann 2020, S. 12). Eine wesentliche Erklärung für den Rückgang der Löhne ist das Absinken der Arbeitszeit; die Tariflöhne (+2,0 %) und die Stundenverdienste (+2,7 %) sind auch im Jahr 2020 gestiegen. Unter dem Strich ergeben sich trotzdem sinkende Monatsverdienste – bei den Menschen, die während der Krise nicht ins Homeoffice, sondern in Kurzarbeit geschickt wurden. Am unteren Ende der Lohnverteilung trifft dies viele besonders hart.

Nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes (2020) kam eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind im Vorkrisenjahr 2019 in der Leistungsgruppe 4 (Angelernte) auch in Vollzeit nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben nur auf 1.825 Euro (früheres Bundesgebiet) bzw. 1.573 Euro (neue Länder). Wenn bei Kurzarbeit davon ein Drittel entfällt, führt dies schnell zu Existenznot. In einigen Branchen wird das Kurzarbeitergeld über tarifliche Regelungen aufgestockt. Doch von den Beschäftigten ohne Tarifvertrag erhalten nur knapp ein Drittel eine Aufstockung (Pusch und Seifert 2021). Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung das Kurzarbeitergeld bei langer Bezugsdauer erhöht hat – auch wenn ein Mindestbetrag oder eine höhere Lohnersatzquote für niedrige Einkommen wie in Österreich zielführender wäre.

Die Pandemie hat auch langfristige Fehlentwicklungen aufgezeigt. So werden viele gesellschaftlich wichtige Tätigkeiten in systemrelevanten Sektoren unterbezahlt (Lübker und Zucco 2020). Die Daten des Statistisches Bundesamtes (2021b) zeigen, wie niedrig die Bruttostundenverdienste in einigen Branchen sind: Im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln lagen diese 2020 in der Leistungsgruppe 4 (Angelernte) für Vollzeitbeschäftigte bei 12,35 Euro, in Call Centern bei 12,07 Euro und Gastgewerbe bei 11,89 Euro (jeweils ohne Sonderzahlungen). Gemessen am Reallohnindex sind die Verdienste der Angelernten seit 2007 insgesamt nur um 6,3 % gestiegen – verglichen mit 9,0 % bei den Fachkräften, 12,2 % bei den herausgehobenen Fachkräften und 19,0 % bei Arbeitnehmer:innen in leitender Stellung (siehe Abbildung). Auch die langfristige Lohnentwicklung hat also eine deutliche soziale Unwucht. Einzige Ausnahme sind die Ungelernten (Gruppe 5, +11,8 %), die bei Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 einen einmaligen, deutlichen Lohnzuwachs erhielten.

Die Politik muss ein Gegengewicht setzen, um die soziale Unwucht in der Lohnentwicklung auszugleichen – durch einen angemessenen Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung. Auf europäischer Ebene hat die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hierfür mit einem Richtlinienentwurf die Initiative ergriffen (Lübker und Schulten 2021). Für Deutschland haben Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) kürzlich den Handlungsbedarf durchdekliniert: ein höherer Mindestlohn, ein Bundes­tariftreuegesetz, die Kopplung von Versorgungsverträgen im Gesundheitswesen an tarifliche Entlohnung sowie eine Reihe von anderen Maßnahmen, die fairen und sozial verantwortlichen Wettbewerb fördern (BMAS und BMF 2021). Anders als oft behauptet stehen Mindestlohn und Tarifautonomie dabei nicht in einem Konkurrenz­verhältnis, sondern ergänzen einander. Auch wenn ein höherer Mindestlohn einzelne Tarifgruppen tangiert, so schützt er tarifgebundene Betriebe vor Schmutzkonkurrenz und kann so die Tarifbindung stabilisieren (Bispinck u.a. 2020).

Literatur
Bispinck, R. u.a. (2020), Entwicklung des Tarifgeschehens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns (pdf). Berlin.

BMAS und BMF (2021), Fairer Mindestlohn, starke Sozialpartnerschaft. Berlin.

Kohlrausch, B., A. Zucco und A. Hövermann (2020), Verteilungsbericht 2020: Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt. Düsseldorf.

Lübker, M. und A. Zucco (2020), Was ist wichtig? Die Corona-Pandemie als Impuls zur Neubewertung systemrelevanter Sektoren, WSI-Mitteilungen, 73 (6), 472-484.

Lübker, M. und T. Schulten (2021), WSI-Mindestlohnbericht 2021: Ist Europa auf dem Weg zu angemessenen Mindestlöhnen? WSI-Mitteilungen, 74 (2), 127-139.

Pusch, T. und H. Seifert (2021), Stabilisierende Wirkungen durch Kurzarbeit. Wirtschaftsdienst, 101 (2), 99-105.

Statistisches Bundesamt (2020), Verdienste und Arbeitskosten: Nettoverdienste - Modellrechnung - 2019. Wiesbaden.

— (2021a), Verdienste und Arbeitskosten: Reallohnindex und Nominallohnindex, 4. Vierteljahr 2020. Wiesbaden.

— (2021b), Verdienste und Arbeitskosten: Arbeitnehmerverdienste. Wiesbaden.
 

Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form bereits erschienen im Wirtschaftsdienst, Heft 4 (2021).

 

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Autor

Dr. Malte Lübker leitet das Referat Tarif- und Einkommensanalysen am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Löhne, personale und funktionale Einkommensverteilung und Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat.

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