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Florian Blank, 01.09.2020: Reform der Sozialversicherung: Klarer Blick notwendig

Über Strukturen der Sozialversicherung lässt sich lang und breit diskutieren. Eine Kommission der BDA hat kürzlich Vorschläge für eine Reform unterbreitet. Verbesserungsvorschläge und Forderungen nach einer effizienteren Verwaltung sollten jedoch auf einer seriösen Datenanalyse fußen. Anderenfalls könnten Reformvorhaben zu einer Verschlimmbesserung führen.

Eine Kommission der BDA hat Vorschläge unterbreitet, wie die „Zukunft der Sozialversicherungen“ gestaltet werden solle, konkreter: wie der Gesamtbeitragssatz zur Sozialversicherung unter 40 Prozent gehalten werden kann. Im Wesentlichen lassen sich die Überlegungen im Kommissions-Bericht darauf reduzieren, dass die Beschäftigten die Kosten tragen sollen – vor allem durch ein höheres Renteneintrittsalter und damit längere Lebensarbeitszeiten, teils auch durch direkte Kostenverschiebungen.

Die Autorinnen und Autoren des Berichts verfolgen auch das Ziel, die Verwaltung der Sozialversicherung günstiger und effizienter zu gestalten. Sicher finden sich in Bezug auf die Struktur der Sozialversicherung Möglichkeiten der Verbesserung. Nur sollte bei der Diskussion um eine bessere Sozialverwaltung von aussagekräftigen Zahlen ausgegangen werden.

Im Kommissionsbericht wird auf Strukturen, aber auch auf Kennzahlen zur Sozialversicherung verwiesen: auf die im Sozialbudget des BMAS ausgewiesenen Verwaltungskosten und die Entwicklung des Personals in der Sozialversicherung und der Bundesagentur für Arbeit. „Die hier genannten Zahlen deuten aber darauf hin, dass die Organisation der Sozialversicherungen und die Entwicklung der damit verbundenen Verwaltungsausgaben eigene Aufmerksamkeit verdienen – generell, aber auch im Hinblick auf eine Begrenzung des Wachstums ihrer Gesamtausgaben“, so die Kommission (BDA-Kommission 2020: 78). Im Folgenden werden die im Bericht gemachten Angaben zu Verwaltungsausgaben und Beschäftigten in der Sozialversicherung eingeordnet und erläutert. Weisen diese Daten auf Ineffizienz hin?

Verwaltungsausgaben im Sozialbudget

Zunächst zu den Sozial- und Verwaltungsausgaben, wie sie im Sozialbudget ausgewiesen werden. Die Autorinnen und Autoren schreiben dazu: „[D]ie im Sozialbudget enthaltenen Verwaltungsausgaben [sind] seit 1984 um 356 Prozent (seit 1970 sogar um mehr als 1.200 Prozent) gestiegen und lagen 2019 bei 37,8 Mrd. Euro. Die Sozialausgaben haben sich im gleichen Zeitraum insgesamt um 337 Prozent erhöht und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist um 265 Prozent gestiegen.“ (BDA Kommission 2020: 78) Mit Blick auf die tatsächliche Entwicklung des Sozialstaats verdecken diese Zahlen aber mehr, als sie erhellen. Es handelt sich hier erstens um nominale Werte, die Angaben sind nicht preisbereinigt. Zweitens wird die Wiedervereinigung völlig ausgeblendet. Die Bevölkerung der Bundesrepublik wurde um rund 16 Millionen Menschen größer – mit den entsprechenden Folgen für Wirtschaftswachstum und Sozialausgaben. Das kann beispielsweise mit Zeitreihen der Rentenversicherung zum Rentenbestand bzw. zu den Versicherten illustriert werden, die in den Zahlen für die gesamte Bundesrepublik ab 1992 auch die neuen Bundesländer in die Statistik einschließen (die Rentenversicherung weist darüber hinaus auch Zahlen getrennt nach alten und neuen Bundesländern aus).

Die Aussage, dass die Sozialausgaben seit 1984 um 337 Prozent angestiegen sind, verdeckt also zunächst, dass schlicht mehr Beitragszahler und Leistungsbezieher Teil des Systems sind. Der Anstieg der Sozialleistungen im Zeitraum 1991-2019 betrug laut Sozialbudget rund 163 Prozent (nominal; die hier und im Folgenden für 2019 angegeben Werte sind im Sozialbudget als „geschätzt“ gekennzeichnet). Häufige Praxis ist es allerdings, nicht die absoluten Werte zu betrachten, sondern den Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dieser Wert ist für die gesamten Ausgaben von 1991 bis 2019 von 25 Prozent auf 30,3 Prozent gestiegen, schwankte aber schon seit Mitte der 1990er Jahre in der Regel zwischen rund 27 und 30 Prozent. 

Und auch diese Werte sind noch nicht eindeutig interpretierbar, denn das Sozialbudget spiegelt nicht nur den „einfachen“ Ausbau oder Rückbau von Leistungen wider, wie etwa die Einführung der Pflegeversicherung 1995. Aufgrund der Einführung der Krankenversicherungspflicht wurde die private Krankenversicherung (PKV) in die Rechnungen aufgenommen. Die Zeitreihen zum Sozialbudget weisen daher einen Bruch auf: Die Werte bis 2008 und ab 2009 sind nicht ohne weiteres vergleichbar. 2019 machten die Leistungen der privaten Krankenversicherung 2,4 Prozent des Sozialbudgets aus (0,7 Prozent des BIP).

Wird nicht der gesamte Sozialstaat in den Blick genommen, sondern die Sozialversicherung allein, zeigt sich, dass deren Anteil an den Sozialausgaben trotz Einführung der Pflegeversicherung insgesamt abgenommen hat (s. Abbildung). Und gemessen am BIP liegen die aktuellen Werte (18,3 Prozent) zwar über denen nach der Wiedervereinigung, aber unter den Höchstwerten, die um die Jahrtausendwende erreicht wurden (2003: 19,6 Prozent). Im Sozialbudget ist es damit zu Verschiebungen gekommen. Auch zeigen sich unterschiedliche Tendenzen zwischen den Zweigen der Sozialversicherung: Die Kranken- und Pflegeversicherung haben relativ an Bedeutung gewonnen, die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung haben an Bedeutung eingebüßt. Die Hintergründe für diese Verschiebungen sind auch in politischen Entscheidungen wie der Absenkung des Rentenniveaus zu finden: Die öffentlichen Rentenleistungen für eine steigende Anzahl von Rentnerinnen und Rentnern werden mit einem geringeren Anteil der Wirtschaftsleistung bestritten.

Die im Sozialbudget ausgewiesenen Verwaltungsausgaben sind von 1991 bis 2019 nominal um 173 Prozent gestiegen. Zur Interpretation dieser Zahl wären auch die schon erwähnten Verschiebungen im Sozialbudget zu analysieren, also wäre beispielsweise auch nach dem Ausbau verwaltungsintensiver Programme zu fragen. Hier wären insbesondere die Folgen der Aufnahme der PKV in das Sozialbudget zu untersuchen. Mit Blick auf die Vergangenheit fällt auf, dass die Verwaltungskosten als Anteil des gesamten Sozialbudgets 2008 noch 3,6  Prozent betrugen und nach Aufnahme der PKV in die Statistik 2009 auf 4,0 Prozent anstiegen (ohne dass dieser Effekt allein auf die Aufnahme der PKV zurückzuführen sein muss).  Im Jahr 2019 betrugen die Verwaltungsausgaben im Sozialbudget rund 38 Mrd. Euro. Auf die PKV allein entfielen 3,8 Mrd. Euro, also rund ein Zehntel der gesamten Verwaltungsausgaben. Die PKV hatte im selben Jahr Gesamtausgaben von rund 25 Mrd. Euro, das sind 2,4 Prozent der Gesamtausgaben aller im Sozialbudget behandelten Sicherungssysteme. Umgekehrt lag der Anteil der Verwaltungsausgaben an den Gesamtausgaben der PKV bei knapp über 15 Prozent. Das ist der höchste Wert für einen einzelnen Posten im Sozialbudget. Die Zweige der Sozialversicherung haben diesen Daten zufolge teils erheblich geringere relative Verwaltungsausgaben – die Verwaltungsausgaben der Rentenversicherung machen rund 1,2 Prozent ihrer Gesamtausgaben aus. In der Unfall- und Arbeitslosenversicherung, die relativ hohe Verwaltungsausgaben haben, wäre mit Blick auf eine effiziente Mittelverwendung zunächst zu prüfen, inwiefern die jeweils spezifische Leistungserbringung (etwa durch Berufsgenossenschaftliche Kliniken bzw. in den Arbeitsagenturen) notwendig zu höheren Verwaltungsausgaben führt.

Im Kommissionsbericht wird auch durchaus bemerkt: „Gemeinhin gelten relativ geringe Verwaltungsausgaben als Vorteil von Sozialversicherungen gegenüber privaten Versicherungslösungen.“ (BDA Kommission 2020: 78) Der Schritt, dies auch in den Daten sichtbar zu machen, fehlt.

Die Entwicklung der Beschäftigung

Ein zweiter Punkt betrifft die Frage nach den Beschäftigten in der Sozialversicherung, die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen werden. Im Bericht der Kommission wird die Aussage gemacht, dass die Zahl der Beschäftigten in der Sozialversicherung stetig gewachsen sei. Allerdings wird auch hier der Effekt der Wiedervereinigung ausgeblendet – die von den Autorinnen und Autoren genannten Quellen beziehen sich bis 1994 auf das frühere Bundesgebiet. Außerdem sind auch für die Zeit ab 1995 noch einige Details der Datenreihen wichtig: 1995 wurde die Pflegeversicherung eingeführt. Ab 2005 werden die Betrieblichen Krankenkassen (BKKen) in der Statistik berücksichtigt und deren Beschäftigten hinzugezählt. Ab 2013 kommen dann auch die Beschäftigten der landwirtschaftlichen Sozialversicherung dazu.

Dennoch ist die Zahl der insgesamt bei Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung und Knappschaft Beschäftigten seit dem Höchststand im Jahr 1996 (268.500 Personen) auf 246.900 Personen im Jahr 2018 gesunken. Besonders deutlich sichtbar ist der Rückgang bei Renten- und Unfallversicherung. In der Krankenversicherung wird das Bild stark durch die Zunahme um fast 20.000 Beschäftigte im Jahr 2005 geprägt, als die BKKen in die Statistik aufgenommen wurden. Abgesehen von diesem Anstieg ist die Tendenz aber auch hier eine Abnahme der Beschäftigung.

Die Ausnahme von der Regel stagnierender oder sinkender Beschäftigtenzahlen stellt die Bundesagentur für Arbeit dar: Hier erscheint es plausibel, dass der deutliche Stellenaufwuchs in den Jahren 2005 bis 2010 eine direkte Folge politischer Entscheidungen ist (Hartz-Reformen), also eine Übertragung neuer Aufgaben durch den Übergang zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, was allerdings noch im Detail zu prüfen wäre. Ebenfalls zu prüfen wären die Gründe der Entwicklung des seit 2012 neu ausgewiesenen Postens „Sonstige Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform – in der Regel Verbände und medizinische Dienste“, der seither ein jährliches Wachstum aufweist. Der Posten umfasst allerdings weniger als 2,5 Prozent der insgesamt in den genannten Bereichen Beschäftigten.

Aber damit ist das Bild immer noch nicht komplett: Die Daten des Statistischen Bundesamtes umfassen für die Jahre bis 2011 auch Angaben zu Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung und für die Zeit ab 2003 werden Vollzeitäquivalente ausgewiesen. Im Zeitraum 1991-2011 ist demnach der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in Sozialversicherung und Bundesagentur von 13 auf 33 Prozent der insgesamt Beschäftigten gestiegen. Seit 2003 ist die Anzahl der Vollzeitäquivalente in der Sozialversicherung von 230.400 auf 217.600 gesunken (trotz Aufnahme der BKKen und der landwirtschaftlichen Sozialversicherung). In der Bundesagentur ist die Zahl der Vollzeitäquivalente zunächst bis 2010 gestiegen (112.100) und schwankt nach einem leichten Rückgang seit 2012 zwischen 98.300 und 102.500. Gegenüber der Gesamtzahl der Beschäftigten in Sozialversicherung und BA von rund 368.000 Personen liegt die Zahl der Vollzeitäquivalente bei rund 327.000 (2018).

Fazit

Es ist sinnvoll, über die Strukturen der Sozialversicherung zu sprechen. Ausgangspunkt sollte jedoch ein klarer Blick auf die Fakten sein. Fest steht: Mehr Menschen denn je werden durch die Sozialversicherung erfasst, mehr Aufgaben fallen an. Und diese Arbeit wird in Renten-, Unfall- und Krankenversicherung von immer weniger Beschäftigten bewältigt. Diese Daten sprechen nicht für Ineffizienz.

 

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Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.

Kontakt: florian-blank (at) boeckler.de

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