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Karin Schulze Buschoff und Helge Emmler, 21.09.2021: Soziale Absicherung von Selbstständigen: Lehren aus der Corona-Krise

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie dringend eine soziale Absicherung der Selbstständigen vonnöten wäre und wie verwundbar diese Gruppe mangels sozialer Absicherung in Krisenzeiten ist.

Folgen der Covid-19-Pandemie für Selbstständige

Die Corona-Pandemie beeinflusst das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben der Menschen weltweit seit bereits mehr als einem Jahr. Die Erfahrung mit der Pandemie hat gezeigt, wie gefährdet und schutzbedürftig vor allem Selbstständige sind. Die langanhaltenden Einschränkungen aufgrund der Pandemie sind für sie oftmals mit erheblichen ökonomischen Folgen verbunden.

Die Ergebnisse der HBS-Erwerbspersonenbefragung verdeutlichen dies: Im Juli 2021 geben 21 Prozent der abhängig Beschäftigten, aber 37 Prozent der Selbstständigen an, dass sich die Corona-Pandemie negativ auf ihr Einkommen ausgewirkt habe. Besonders betroffen sind Solo-Selbstständige: 44 Prozent erlitten Einkommensverluste durch die Coronakrise (Selbstständige mit Mitarbeiter:innen: 29 Prozent). Infolgedessen hat sich der Anteil der Selbstständigen mit Mitarbeiter:innen mit einem Individualnettoeinkommen von weniger als 1500 Euro monatlich im Juli 2021 im Vergleich zum Vorkrisenniveau etwa verdoppelt. Ähnliche Prozentsatzdifferenzen sind bei den Solo-Selbstständigen zu beobachten. Ein Drittel (33 Prozent) der solo-selbstständigen Frauen erzielt im Juli 2021 ein Einkommen von unter 1500 Euro (vor der Krise 27 Prozent), bei den solo-selbstständigen Männern beträgt dieser Anteil 18 Prozent (vor der Krise 11 Prozent). Zum gleichen Zeitpunkt gaben 22 Prozent der abhängig Beschäftigten, aber 28 Prozent der Selbstständigen mit Mitarbeiter:innen und 41 Prozent der Solo-Selbstständigen an, dass sie in den letzten sechs Monaten auf Ersparnisse zurückgreifen mussten, um ihre monatlichen Ausgaben bestreiten zu können – dies obwohl Solo-Selbstständige weniger häufig über finanzielle Rücklagen verfügen als die anderen beiden Gruppen.

Selbstständige leiden wie kaum eine andere Beschäftigungsgruppe unter den finanziellen Folgen der Krise. Trotz dieser massiven finanziellen Schwierigkeiten erhielten Selbstständige nur vergleichsweise wenig direkte staatliche Unterstützung, um ihre Einkommensausfälle auszugleichen. Sie konnten nicht auf das Kurzarbeitergeld oder ein vergleichbares Instrument zurückgreifen (Kritikos 2020). Zwar gab es im Verlauf der Krise vermehrt finanzielle Hilfen für Selbstständige, allerdings beschränkten sich diese zu großen Teilen auf die betrieblichen Fixkosten, nicht aber auf die Einkommenseinbußen oder die Deckung des Lebensunterhalts (Grabka 2021) [1]. So stellen die Einkommenseinbußen für viele Selbstständige seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 fortlaufend eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz dar (Stiel et al. 2021: 1).

Soziale Rechte Selbstständiger stärken

Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf die soziale Absicherung schlecht abschneidet: Während in der Mehrzahl der EU-Länder die Selbstständigen durch die staatli­chen Pflichtversicherungssysteme systematisch er­fasst werden, ist die Pflichtversicherung in Deutsch­land entsprechend der Tradition der Bismarckschen Sozialversicherung auf wenige Sondergruppen Selbstständiger (bzw. Scheinselbstständiger) be­grenzt.  Insgesamt bestand schon vor der Corona-Krise umfänglicher Handlungsbedarf zur Stärkung der sozialen Rechte Selbstständiger. Dieser Handlungsbedarf wurde durch die Folgen der Krise noch verstärkt. Vielfach gefordert wird bereits seit einigen Jahren die Verbesserung der sozialen Absicherung von Selbstständigen (Fachinger 2007, Fachinger und Frankus 2011, Schulze Buschoff 2007).

Auch im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien der laufenden 19. Legislaturperiode wurde dieser Punkt aufgegriffen und insbesondere die Verbesserung der Altersvorsorge für Selbstständige als Vorhaben angekündigt (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2018: 93). Um die im Koalitionsvertrag angekündigte Altersvorsorge-Pflicht für Selbstständige ist es in der zweiten Hälfte der Legislatur still geworden – sicherlich auch aufgrund der vordringlichen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise. Dass die Reform der Altersvorsorge für Selbstständige nicht umgesetzt wurde, erweist sich allerdings als schweres Versäumnis – die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie dringend eine soziale Absicherung der Selbstständigen vonnöten wäre und wie verwundbar diese Gruppe mangels sozialer Absicherung in Krisenzeiten ist.

Pflicht zur Altersvorsorge als dringender Schritt

Die Pflicht zur Altersvorsorge für alle Selbstständigen ist ein dringender und überfälliger Schritt und muss mit hoher Priorität auf der politischen Agenda bleiben. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Covid-19-Pandemie sollte die Ausgestaltung des Reformvorhabens überprüft und in einem größeren Zusammenhang der sozialen Sicherung von Selbstständigen gesetzt werden. Berücksichtigt werden muss, dass die Covid-19-Krise viele Selbstständige finanziell hart getroffen hat und dass neue finanzielle Belastungen in Form von obligatorischen Beiträgen zu verschiedenen Zweigen der Sozialversicherungen möglicherweise einer längeren Übergangszeit bedürfen.

Vermieden werden sollte bei der Lösung des Problems der mangelnden sozialen Sicherung Selbstständiger der bislang in Deutschland beschrittene Weg, für weitere Gruppen von Selbstständigen sozialversicherungsrechtliche Sonderregelungen zu schaffen. Diese Sonderregelungen privilegieren dann die betreffenden Gruppen, schaffen aber zugleich neue Ausgrenzungen und Hürden für andere und damit neue Ungleichheiten. Statt Sonderreglungen sollten möglichst universelle Regelungen geschaffen werden. Angestrebt werden sollte eine sozialversicherungsrechtliche Gleichbehandlung von Selbstständigen und abhängig Beschäftigten. Vor dem Hintergrund der hohen Dynamik der Selbstständigkeit und der Zunahme von hybriden Beschäftigungsformen wäre dann ein Wechsel des Erwerbstatus nicht mit Nachteilen in der Sozialversicherung verbunden. Durch eine möglichst universelle Lösung könnten Sicherungslücken aufgrund wechselhafter Erwerbsbiografien vermieden werden. Weiterhin wird damit anerkannt, dass eine klare Grenzziehung zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbsarbeit immer schwerer zu ziehen ist und der Graubereich wächst. Mit Blick auf die Altersvorsorge stellt die sozialversicherungsrechtliche Gleichbehandlung in Form der Pflichtversicherung für alle Erwerbstätigen in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) eine solche universelle Lösung dar. Durch die Erweiterung um bislang nicht in der GRV versicherte Erwerbstätige würde eine Stärkung der Solidargemeinschaft erfolgen (Schulze Buschoff 2018).

In den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl 2021 wird die Einbeziehung der Selbstständigen in die GRV immerhin von der SPD, von dem Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke gefordert. Die CDU/CSU propagiert dagegen in ihrem Wahlprogramm die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige wahlweise in der GRV oder in anderen „sicheren“ Vorsorgearten. Die FDP fordert eine Basisabsicherung mit maximaler Wahlfreiheit. Die Versicherung bei einem frei wählbaren, auch privaten Versicherungsträger, wie von CDU/CSU und der FDP in ihren Programmen gefordert, würde eine Vorsorgepflicht faktisch unkontrollierbar machen.

Weitere Schritte zur Stärkung der Rechte von Selbstständigen

Die Öffnung der Sozialversicherungen für Selbstständige ist insbesondere in Zeiten des digitalen Wandels der Arbeitswelt und der Zunahme hybrider Beschäftigungen erforderlich, um ihrem Zweck des umfassenden Schutzes vor sozialen Risiken gerecht zu werden. Mit Blick auf die Arbeitslosenversicherung gilt es, die Zugangsvoraussetzungen zu lockern und sie prinzipiell für alle Selbstständigen zu öffnen. Ein notwendiger Schritt besteht weiterhin darin, arbeits- und sozialrechtliche Regelungen an die Bedingungen der Plattformökonomie anzupassen. Hier sollten Rahmenregulierungen auf europäischer Ebene entwickelt werden, um in diesem grenzübergreifenden Arbeitsmarkt größere Rechtssicherheit, Einheitlichkeit und Transparenz zu gewährleisten.

Auf europäischer Ebene sollte weiterhin durch entsprechende Festschreibungen im Europarecht allen Erwerbstätigen, einschließlich Plattformbeschäftigten und Selbstständigen, das Recht auf Tarifverhandlungen und Kollektivvereinbarungen gewährt werden. Im Hinblick auf das öffentliche Interesse überwiegen die gesellschaftlichen Vorteile, die solche Vereinbarungen in Bezug auf Fairness und sozialen Fortschritt mit sich bringen (Hlava und Schulze Buschoff 2021).

Referenzen

Fachinger, Uwe. 2007: Längst überfällig – die Rentenversicherungspflicht für Selbstständige. In: Wirtschaftsdienst 87 (6), 349-350.

Fachinger, Uwe, und Frankus, Anna. 2011: Sozialpolitische Probleme der Eingliederung von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. WISO Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Februar 2011. Bonn: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Grabka, Markus. 2021: Einkommensungleichheit stagniert langfristig, sinkt aber während der Corona-Pandemie leicht. DIW-Wochenbericht 18/2021.

Hlava, Daniel, und Schulze Buschoff, Karin. 2021: Ein modernes Arbeitsrecht für Selbstständige. In: AG Soziales Europa der Hans-Böckler-Stiftung (Hg.): Zukunft Soziales Europa. WSI Report Nr. 67. Seite 16-19.

Kritikos, Alexander S., Graeber, Daniel und Seebauer Johannes. 2020: Corona-Pandemie wird zur Krise für Selbstständige. DIW aktuell.

Schulze Buschoff, Karin. 2007: Neue Selbstständige im europäischen Vergleich – Struktur, Dynamik und soziale Sicherheit. Edition der Hans-Böckler-Stiftung, Band 201, Düsseldorf.

Schulze Buschoff, Karin. 2018: Selbstständigkeit und hybride Erwerbsformen. Sozialpolitische Gestaltungsoptionen. WSI-Policy Brief Nr. 21/2018.

Stiel, Caroline, Kritikos, Alexander S., Block, Jörn und Priem, Maximilian. 2021: Soforthilfe für Selbstständige wirkt vor allem positiv, wenn sie rasch gewährt wird. DIW aktuell 60.
 



[1] Selbstständige konnten bei Liquiditätsproblemen im Rahmen der „Soforthilfe“ zwischen Ende März und Ende Mai 2020 einen einmaligen Zuschuss von bis zu 15.000 Euro zur Deckung fixer Betriebskosten beantragen. Im Verlauf der Pandemie wurden mit den Überbrückungshilfen I (Sommer 2020) und II (Herbst/Winter 2020) und der Überbrückungshilfe III einschließlich der „Neustarthilfe für Solo-Selbstständige“ (Winter 2020 bis Frühjahr 2021) zusätzliche Hilfen auf den Weg gebracht (Stiel et al. 2021: 1f.)

 

Zum Weiterlesen:

Schulze Buschoff, Karin; Emmler, Helge: Selbstständige in der Corona-Krise. Ergebnisse aus der HBS-Erwerbspersonenbefragung, Wellen 1 bis 5. WSI Policy Brief 60, 09/2021.

 

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Autor:innen

PD Dr. Karin Schulze Buschoff leitet das Referat Arbeitsmarktpolitik des WSI. Sie ist Expertin für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im deutschen und europäischen Kontext, vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung und Sozialstrukturanalyse.

Dr. Helge Emmler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Einrichtung und Pflege des WSI-Datenzentrums sowie sozialwissenschaftliche Methodenforschung.

 

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