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Saskia Boumans, 03.12.2019: Für einen Mindestlohn von 14 Euro! Zur aktuellen Kampagne des FNV

In den Niederlanden gibt es bereits seit 50 Jahren einen gesetzlichen Mindestlohn. Ab Januar 2020 liegt er bei 1.653,60 Euro im Monat – das sind je nach Wochenarbeitszeit 9,54 bis 10,60 Euro pro Stunde. Der Gewerkschaftsbund FNV hat eine Kampagne für einen höheren Mindestlohn gestartet.

Aktuell erhalten etwa eine halbe Millionen Beschäftigte in den Niederlanden lediglich den gesetzlichen Mindestlohns oder sogar weniger – das sind sechs Prozent der Beschäftigten. Bis in die 1990er Jahre war der Anteil der Mindestlohnempfänger rückläufig. Danach stieg er wieder an und verharrt seit 2005 auf seinem jetzigen Niveau. Etwa die Hälfte aller Mindestlohnempfänger sind junge Beschäftigte unter 25 Jahren. Man könnte deshalb meinen, das Problem der Niedriglohnbeschäftigung in den Niederlanden sei relativ begrenzt.

Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass vor allem Arbeitsplätze, die knapp über dem Mindestlohn liegen, stark zugenommen haben. So hat sich die Anzahl der Beschäftigten mit einem Lohn von 100 bis 105 Prozent des Mindestlohns zwischen 2009 und 2017 fast verdoppelt. Im Bereich zwischen 105 und 110 Prozent des Mindestlohns lag der Anstieg im selben Zeitraum bei mehr als 35 Prozent. Zählt man zu den 500.000 Mindestlohnempfängern noch die Beschäftigten mit einem Lohn von bis zu 110 Prozent des Mindestlohns hinzu, kommt man auf eine Million Niedriglohnbeschäftigte. Jeweils eine weitere halbe Million arbeitet für ein Entgelt zwischen 110 und 120 Prozent bzw. 120 bis 130 Prozent des Mindestlohns. Der FNV, der mit einer Million Mitgliedern der größte Gewerkschaftsbund in den Niederlanden ist, setzt sich nun intensiv für einen Mindestlohn von 14 Euro ein. Die Kampagne zielt insgesamt darauf ab, die Löhne von mindestens zwei Millionen Niedriglohnbeschäftigten, die weniger als 130 Prozent des Mindestlohns verdienen, zu verbessern.

Eine Besonderheit in den Niederlanden besteht darin, dass verschiedene staatliche Sozialleistungen wie z.B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Altersversorgung und Erwerbsminderungsrenten an den Mindestlohn gekoppelt sind. Eine höherer Mindestlohn bedeutet deshalb nicht nur mehr Lohn für die betroffenen Beschäftigten, sondern auch mehr Geld für Sozialleistungsempfänger. Im Jahr 2017 erhielten fast fünf Millionen Personen Sozialleistungen, davon allein rund 3,5 Millionen aus der staatlichen Rentenkasse. Vor diesem Hintergrund haben niederländische Regierungen in der Vergangenheit immer wieder dazu geneigt, ihre Haushaltsprobleme u.a. dadurch zu lösen, dass sie den Mindestlohn weniger stark angehoben oder ganz eingefroren haben – um so den Anstieg der Sozialleistungen zu begrenzen.

Der Mindestlohn bleibt hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurück 

Normalerweise wird der Mindestlohn in den Niederlanden zweimal jährlich (jeweils zum 1. Januar und zum 1. Juli) entsprechend der Entwicklung der Tariflöhne angepasst. Allerdings hat die Regierung die Möglichkeit, von der Tariflohnorientierung abzuweichen, wenn sie dies aus ökonomischen Gründen für notwendig hält. Tatsächlich wurde der Mindestlohn zwischen 1985 und 2005 dank staatlicher Intervention in insgesamt zehn Jahren nicht erhöht. Hinzu kommt, dass die Tariflohnzuwächse seit Ende der 1970er Jahre im Schnitt gerade einmal die Inflationsrate ausgeglichen haben. Infolgedessen ging die Kaufkraft des Mindestlohns stark zurück.

Schließlich blieb der Mindestlohn insgesamt deutlich hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurück. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Effektivlöhne in den Niederlanden deutlich stärker zunahmen als die Tariflöhne. Diese positive Lohndrift ist das Ergebnis verschiedener Faktoren, wie z.B. zusätzlichen Lohnerhöhungen aufgrund von Senioritätsregelungen, Beförderungen, Arbeitsplatzwechsel usw. Auf diese Weise ging der Kaitz-Index, d.h. das Verhältnis von Mindestlohn zum Median- oder Durchschnittslohn, immer weiter zurück. Bei seiner Einführung Ende der 1960er Jahre lag der niederländische Mindestlohn bei 69 Prozent des Durchschnittslohns von Vollzeitbeschäftigten. 2018 waren es laut OECD nur noch 39 Prozent. 

Die niederländische Regierung ist sich durchaus bewusst, dass das Niveau des Mindestlohns deutlich zu niedrig ist. Dies zeigt sich u.a. daran, dass in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Sozialleistungen geschaffen wurden, die es den Niedriglohnempfängern ermöglichen sollen, über die Runden zu kommen. Hierzu zählen ein neues Pflegegeld, um die Kosten der zunehmend privatisierten Gesundheitsvorsorge tragen zu können, ein Kinderbetreuungsgeld für private Betreuungseinrichtungen und ein Mietzuschuss für einen zunehmend liberalisierten Wohnungsmarkt. Allein im Jahr 2018 wurden dafür insgesamt 12,9 Milliarden Euro an Steuergeldern ausgegeben. Im Jahr 2017 bezogen 57 Prozent aller niederländischen Haushalte eine oder mehrere dieser Leistungen.

In den Niederlanden sind somit die Marktlöhne für Millionen von Beschäftigten so niedrig, dass sie auf zusätzliche staatliche Leistungen angewiesen sind, um ihr Familieneinkommen auf ein angemessenes Niveau zu bringen. Bereits im Jahr 2014 kam der Wetenschappelijke Raad voor het Regeringsbeleid (WRR) – ein unabhängiges Beratungsgremium der niederländischen Regierung – in einer Studie zu dem Ergebnis, dass "die niederländische Umverteilungsmaschine" durch den Staat immer härter arbeiten muss, um die sozialen Folgen zunehmender Ungleichheit aufzufangen. Gleichzeitig ist die Steuerbelastung der Unternehmen immer weiter zurückgegangen, so dass die sozialen Kosten des Niedriglohnsektors von der Allgemeinheit getragen werden müssen.

Die Kampagne des FNV

Nach Ansicht des niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV ist es an der Zeit, die Löhne im Niedriglohnsektor durch eine strukturelle Erhöhung des Mindestlohns deutlich anzuheben und damit die Beschäftigten aus der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen zu befreien. Eine Anfang November im Auftrag des FNV durchgeführte Meinungsumfrage hat gezeigt, dass die Gewerkschaft mit dieser Position nicht allein ist: Sieben von zehn Befragten befürworten eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns auf 14 Euro. Hierzu gehören nicht nur die Anhänger der linken Oppositionsparteien, sondern auch eine deutliche Mehrheit der Anhänger der Parteien, die aktuell die Koalitionsregierung in den Niederlanden stellen. Selbst unter den Anhängern der rechts-liberalen Regierungspartei VVD des Ministerpräsidenten Mark Rutte befürwortet etwa die Hälfte eine entsprechende Erhöhung des Mindestlohns. Die Meinungsumfrage hat darüber hinaus zu dem bemerkenswerten Ergebnis geführt, dass die Mehrzahl der Niederländer glaubt, der Mindestlohn würde bereits bei rund 13 Euro pro Stunde liegen, statt der durchschnittlich knapp 10 Euro.

Die Kampagne zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 14 Euro pro Stunde wurde im Frühjahr 2019 gestartet. Sie zielt vor allem auf die 2021 anstehenden Parlamentswahlen. Auf lokaler Ebene haben sich schon zahlreiche Komitees gegründet, die die Forderung nach mehr Mindestlohn mit vielfältigen Aktionen unterstützt haben. Tausende Menschen haben sich daran beteiligt. Hinzu kommt eine intensive Medien- und Lobbyarbeit, die darauf hinwirken will, dass das Thema Mindestlohn im kommenden Parlamentswahlkampf ganz oben auf der Tagesordnung steht. Koordiniert wird alles von einem zentralen Kampagnenteam des FNV, in dem mehr als zwölf Personen – darunter Organizer, Wissenschaftler*innen und Kommunikationsexpert*innen – zusammenarbeiten.

Die gewerkschaftliche Mindestlohnkampagne steht unter dem Motto “Steh auf für 14!”. Der FNV hat bereits viel Erfahrung in diesem Bereich: Schon 2015 hatte er sich mit einer Reihe von Aktionen für die Abschaffung der ganz besonders niedrigen Jugendmindestlöhne eingesetzt. Im Ergebnis wurde die Altersgrenze für den Erwachsenenmindestlohn auf 21 Jahre abgesenkt und zudem die darunterliegenden, nach Lebensalter gestaffelten Jugendmindestlöhne angehoben. Beide Kampagnen wurden in der Organisationsabteilung des FNV geboren, die auch schon die erfolgreichen Kampagnen der niederländischen Gebäudereiniger und der Beschäftigten am Amsterdamer Flughafen Schiphol entwickelt hatte. 

Als Reaktion auf die anhaltenden Mitgliederverluste setzt der niederländische Gewerkschaftsbund FNV seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt auf Kampagnen, um möglichst viele Menschen für gewerkschaftliche Themen zu mobilisieren. Zwar konnte der Mitgliederrückgang bislang nicht gestoppt werden, so dass die Mitgliederzahl des FNV kürzlich sogar erstmals unter die symbolische Grenze von 1 Million sank – aber trotzdem ist es gelungen, mit den Kampagnen einen neuen Ansatz von Gewerkschaftsarbeit zu entwickeln, der auf eine aktive Beteiligung der Mitglieder setzt. Für die kommende Zeit wird nun die Mindestlohnkampagne ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt des FNV sein. Dabei geht es um nicht weniger als einen grundlegenden Wandel der Lohnpolitik in einem Land, das seit langem für seine besonders hartnäckige Lohnzurückhaltung berüchtigt ist.

Autorin

Saskia Boumans arbeitet beim niederländischen Gewerkschaftsbund FNV und promoviert am Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies/Hugo-Sinzheimer-Institut (AIAS-HSI) der Universität Amsterdam.

Kontakt: saskia.boumans(at)fnv.nl

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