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Streikende IG Metall-Mitglieder aus Baden-Württemberg stehen am 11.2.2004 im Congress-Zentrum in Pforzheim.

Reinhard Bispinck, 01.03.2024: 20 Jahre Pforzheimer Abkommen – und seine Hintergründe

Der „Tarifvertrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung“ aus dem Jahr 2004 war nicht die erste Vereinbarung, die eine (konditionierte) Abweichung von flächentarifvertraglichen Normen erlaubte, aber sie hatte eine große Ausstrahlungskraft.

Im Februar 2004 einigten sich die IG Metall und der Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg auf einen „Tarifvertrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung“, der als Pforzheimer Abkommen in die Tarifgeschichte einging und bis heute ein fester Begriff in der tarifpolitischen Debatte ist. Rückblickend sind die Tarifvertragsparteien voll des Lobes. Die IG Metall nannte das Abkommen zehn Jahre nach Abschluss ein „Musterbeispiel für gelungene interne Flexibilisierung“ und hält heute fest, dass das Pforzheimer Abkommen auch 20 Jahre später immer noch „ein sehr tragfähiges Instrument“ sei, um Arbeitsplätze abzusichern. Südwestmetall spricht von einer „wegweisenden Vereinbarung“, die zu einem „eindringlichen Plädoyer für eine innovative Tarifpolitik geworden“ sei.

Was da als offenkundig gelungenes Beispiel gemeinsamer Tarifpolitik präsentiert wird, war allerdings zum Zeitpunkt seiner Entstehung zwischen den Tarifparteien stark umstritten und wird nur verständlich, wenn man sich die damalige (tarif)politische Großwetterlage vergegenwärtigt. Nicht nur der Streit um die Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems (Agenda 2010), sondern auch die Auseinandersetzung um die zukünftige Entwicklung des Tarifsystems trug Züge eines gesellschaftlichen Grundkonflikts.

Angriffe auf den Flächentarifvertrag

Die Angriffe von konservativer und marktradikaler Seite auf das Tarifvertragssystem erreichten 2002/2003 einen Höhepunkt. Angesichts anhaltender Arbeitsmarktkrise und nachweislicher Erfolglosigkeit der praktizierten Wirtschaftspolitik nahm die Neigung bei allen politischen Akteuren zu, die Krisenursachen in den „Strukturen“ des Arbeitsmarktes und seiner Regulierung zu suchen. Dabei hofften die konservativen Kritiker darauf, nunmehr die Früchte einer jahrelangen Kampagne gegen die vermeintlich verkrusteten und überkommenen Strukturen des „Tarifkartells“ ernten zu können.

Spätestens seit der Agenda-Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003 einte (nahezu) alle Parteien, Verbände, Institute und Sachverständige die Forderung nach mehr Flexibilität in Tarifverträgen. Schröder forderte, dass in den Tarifverträgen ein „flexibler Rahmen“ geschaffen werden müsse. „Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln.“

In den Wochen und Monaten zuvor hatten sich die hinlänglich bekannten Kritiker des Flächentarifvertrages gegenseitig überboten. FDP-Chef Westerwelle forderte: „Im Bereich der Lohnfindung muss der flächendeckende Tarifvertrag verschwinden“ (Dt. Bundestag 29.10.2002). CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz forderte eine „Durchlöcherung des Tarifkartells“ durch betriebliche Vereinbarungen unterhalb des Tarifniveaus (dpa-Gespräch 9.6.2003). Michael Glos (CSU) forderte ohne Umschweife: „Wir müssen die Flächentarifverträge beseitigen.“ („Sabine Christiansen“ 22.6.2003). Und BDI-Präsident Michael Rogowski verstieg sich gar zu der Forderung: „Man müsste Lagerfeuer machen und erstmal die ganzen Flächentarifverträge verbrennen" (Spiegel Online 11.3.2003). Damit fand die schon seit Jahren geführte Auseinandersetzung um die Zukunft des Tarifsystems einen neuen vorläufigen Höhepunkt. Unübersehbar wurde deutlich, dass es Teilen der Wirtschaft und breiten politischen Kreisen namentlich in der FDP und der CDU/CSU darum ging, eine grundlegende Machtauseinandersetzung mit den Gewerkschaften zu führen. Das ureigene Handlungsfeld der Gewerkschaften, die Tarifpolitik, sollte faktisch entwertet werden.

Durch das Aufbrechen von Tarifvorrang und Günstigkeitsprinzip, durch die Aufwertung betrieblicher Vereinbarungen gegenüber tariflichen Regelungen sollten die Gewerkschaften entmachtet werden zugunsten einer neuen Autonomie der Betriebe.

Dabei war eine auffällige Verschärfung der Argumentation im Arbeitgeberlager zu beobachten. War es bis dahin dem Bundesverband der deutschen Industrie (Henkel, Rogowski) vorbehalten, in marktradikaler Weise das „Tarifkartell“ insgesamt in Frage zu stellen, gab die BDA in einer „Zwischenbilanz der Tarifrunde 2003“ (Hundt 2003) ihre bisherige Zurückhaltung auf. Angesichts der „rücksichtslosen“ Tarifpolitik von ver.di und IG Metall werde es bald keine Branchentarifverträge mehr geben, weil die Betriebe dadurch aus den Verbänden getrieben würden. Gesetzliche Öffnungsklauseln, die ein Abweichen von verbindlichen tariflichen Standards ermöglichten, seien gewissermaßen das einzige Mittel, um den Flächentarifvertrag zu erhalten und die „Demontage der Tarifautonomie“ durch die gewerkschaftliche Tarifpolitik zu verhindern.

Die CDU/CSU hatte ihre Vorstellungen zu einem radikalen Kurswechsel in der Tarifpolitik in ihrem Gesetzentwurf zur Modernisierung des Arbeitsrechts (CDU/CSU-Fraktion 2003) vorgelegt und ging damit in die parlamentarischen Beratungen um die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen. Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat einigte man sich letztendlich auf eine unverbindliche „Protokollnotiz“, in der es hieß: „Wir erwarten von den Tarifvertragsparteien, dass sie sich in den nächsten 12 Monaten auf eine neue Balance zwischen Regelungen auf tarifvertraglicher und betrieblicher Ebene verständigen.“

Tarifrunde 2004 in der Metallindustrie

Damit war das Thema (tarif-)politisch keineswegs vom Tisch. In der Tarifrunde 2004 forderten die Arbeitgeber in zahlreichen Branchen mit Hinweis auf die Diskussionen des Jahres 2003 den Abschluss möglichst weitreichender und unkonditionierter tariflicher Öffnungsklauseln.

Die Metallarbeitgeber machten frühzeitig deutlich, dass sie in dieser Tarifrunde die Nagelprobe auf die weitere Flexibilisierung der Tarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie machen wollten. Im Bereich der Arbeitszeit wollten sie durchsetzen, „dass die Betriebsparteien auf freiwilliger Basis das Arbeitszeitvolumen – also die individuelle reguläre Wochenarbeitszeit – und die zugeordnete Bezahlung innerhalb einer Bandbreite von 35 bis 40 Stunden vereinbaren können“ (Martin Kannegießer, Statement vom 20.11.2003). Damit wären die tarifvertraglichen Arbeitszeitbestimmungen in ihrem Kern getroffen. Nicht nur entstünde auf diese Weise ein Arbeitszeitkorridor, über dessen Nutzung auf betrieblicher Ebene entschieden würde, auch die zentrale Frage, ob die dann mögliche Arbeitszeitverlängerung um bis zu fünf Stunden überhaupt, teilweise oder vollständig bezahlt würde, wäre der tarifvertraglichen Regelung entzogen. Aus Sicht der IG Metall stellte sich diese Forderung von Gesamtmetall deshalb als Versuch dar, über die Hintertür die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche ohne Bezahlung zu realisieren. Entsprechend harsch fielen die Reaktionen aus. Die IG Metall lehnte es ab, darüber überhaupt zu verhandeln und kündigte harten Widerstand an. Nach sechs Verhandlungsrunden einigten sich die Tarifparteien auf ein Ergebnis, das neben Lohn- und Gehaltssteigerungen u. a. vorsah:

  • Arbeitszeit: In Betrieben mit mehr als 50 Prozent der Beschäftigten in den oberen Gehaltsgruppen können sich Unternehmensleitung und Betriebsrat darauf verständigen, die Quote von Beschäftigten mit einer individuellen Arbeitszeit bis zu 40 Stunden von bisher 18 Prozent auf bis zu 50 Prozent der Beschäftigten auszudehnen. Die Tarifvertragsparteien können außerdem vereinbaren, die Quote für einen Betrieb oder Betriebsteile zu erhöhen, sofern das Innovation ermöglicht oder Fachkräftemangel herrscht.
  • Vereinbarung zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen: Zur nachhaltigen Verbesserung der Beschäftigungsentwicklung können die Tarifvertragsparteien nach gemeinsamer Prüfung mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen vereinbaren oder befristet von tariflichen Mindeststandards abweichen (z.B. Kürzung von Sonderzahlungen, Stundung von Ansprüchen, Erhöhung oder Absenkung der Arbeitszeit mit oder ohne vollen Lohnausgleich. Nach drei Jahren sollten die Erfahrungen bilanziert werden.

Pforzheimer Abkommen

Damit war das Pforzheimer Abkommen in der Welt, es wurde auf die gesamte Metall- und Elektroindustrie übertragen und es existiert inhaltlich in abgewandelter Form bis heute. Es war bei weitem nicht die erste tarifvertragliche Vereinbarung, die eine (konditionierte) Abweichung von den flächentarifvertraglichen Normen erlaubte, aber sie hatte eine große Ausstrahlungskraft. Zweifellos führte es in der Metall- und Elektroindustrie zu einer strikteren gewerkschaftlichen Koordinierung und Kontrolle betriebsbezogener Vereinbarungen, die es auch zuvor bereits gegeben hatte. Die IG Metall setzte organisationsintern ein rigides Verfahren zur Begleitung und Kontrolle von betrieblichen Ergänzungstarifverträgen auf der Basis von „Pforzheim“ durch. Das sicherte vor allem, dass Zugeständnisse der Beschäftigten nur bei entsprechenden Gegenleistungen der Betriebe gemacht wurden.

Angaben zur praktischen Nutzung des Pforzheimer Abkommens gibt es nur wenige. Südwestmetall teilte kürzlich mit, dass jährlich eine dreistellige Zahl von Ergänzungstarifverträgen abgeschlossen würden, bei einem Drittel bis zur Hälfte handele es sich um sog. Pforzheim-Verträge. Das bedeute, rund fünf Prozent der Betriebe nutze die Möglichkeiten des Pforzheimer Abkommens (Stuttgarter Zeitung 13.2.2024).

Eine Hoffnung war, dass die betriebsspezifische Anpassung der Tarifverträge zu einer Stabilisierung der Tarifbindung führen würde. Sie ging leider nicht Erfüllung: In den Mitgliedsverbänden von Gesamtmetall geht die Zahl der tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen kontinuierlich zurück, die Zahl der Firmen ohne Tarifbindung (OT-Mitglieder) steigt stetig an.

Zum Weiterlesen

IG Metall Baden-Württemberg (2004): Kurze Zusammenfassung des Tarifergebnisses vom 12. Februar in Pforzheim

IG Metall (2014): 10 Jahre Pforzheimer Abkommen - Wie ein Abkommen Beschäftigung sichert, 26. Februar 2014

IG Metall Baden-Württemberg (2024): 20 Jahre "Pforzheimer Abkommen" in der Metall- und Elektroindustrie, 12.02.2024

Bahnmüller, R. (2017): Von der Erosion des Flächentarifvertrags zur Chance der Erneuerung. Tarifdebatten in der IG Metall vor und nach dem „Pforzheimer Abkommen“, in: T. Schulten/H. Dribbusch/G. Bäcker/Ch. Klenner (Hrsg.), Tarifpolitik als Gesellschaftspolitik. Strategische Herausforderungen im 21. Jahrhundert, Hamburg 2017, S. 34-47

Bispinck, R. (2004): Kontrollierte Dezentralisierung der Tarifpolitik – Eine schwierige Balance, in: WSI-Mitteilungen 5/2004, S. 237-245

Bispinck, R./WSI-Tarifarchiv (2003): Konflikt um Tarifautonomie - Kampf um Lohnprozente, Tarifpolitischer Jahresbericht 2003

Bispinck, R./WSI-Tarifarchiv (2005): Wie flexibel sind Tarifverträge? Eine Untersuchung von Tarifverträgen in über 20 Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen, Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 60, Düsseldorf, November 2005

Pforzheimer Abkommen (2004): Tarifvertrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungssicherung zwischen Südwestmetall und IG Metall Bezirk Baden-Württemberg

Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14.03.2003, Plenarprotokoll der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. März 2003

Stuttgarter Zeitung (2024): Wie in Pforzheim der Flächentarifvertrag gerettet wurde, 13.2.2024

Südwestmetall (2024): Vor 20 Jahren schrieben die M+E-Tarifparteien mit dem „Pforzheimer Abkommen“ Tarifgeschichte, Pressemitteilung 12.02.2024

 

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Autor

Dr. Reinhard Bispinck, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln, Promotion 1986. Ab 1979 wissenschaftlicher Referent am WSI, von 1989 bis 2017 Leiter des WSI-Tarifarchivs, 2013 bis 2017 Abteilungsleiter des WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Tarifpolitik, Industrielle Beziehungen, Sozialpolitik.

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