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WSI Blog Heinze Schupp

Rolf G. Heinze/Jürgen Schupp, 25.10.2022: Der beständige Wandel zum Grundsicherungsstaat: Krisen als Transformationstreiber

Grundsicherungssysteme werden im deutschen Sozialstaat wichtiger. Zeigen sich darin Potentiale für die Weiterentwicklung in Richtung eines Grundeinkommens?

Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) hat in der öffentlichen wie auch der wissenschaftlichen Debatte um die sozialstaatliche Sicherung seit geraumer Zeit Konjunktur. Allerdings gleichen die derzeitigen inhaltlichen Diskurse bislang in guten Momenten einem philosophischen Salon, in schlechten Momenten hingegen vor allem einem Glaubenskrieg auf Grundlage von persönlichen Meinungen oder Vermutungen. Selten beruht die Diskussion auf verallgemeinerungsfähigem, fundiertem und evidenzbasiertem Wissen. Die Debatte ist geprägt von Klischees wie Stereotypen, und man hat beim Blick in die Verlautbarungen der Parteien und Interessenverbände manchmal den Eindruck, es gehe in Europa ein „Gespenst“ um: diesmal nicht das des Kommunismus, sondern das des bedingungslosen Grundeinkommens.

Zur Einordnung des utopischen Konzepts eines BGE sei zunächst an die fünf in der internationalen Debatte um ein Grundeinkommen festgelegten Definitionsmerkmale erinnert:

1.  regelmäßige Zahlung (bspw. monatlich) und nicht als einmaliger Zuschuss,

2.  als Barzahlung, so dass selbst entschieden werden kann, wofür das Geld verwendet wird,

3.  individuell – die Zahlung erfolgt auf individueller Basis und nicht an Haushalte oder an Bedarfsgemeinschaften,

4.  universell – Zahlung erfolgt an alle Bürger*innen eines Landes in gleicher Höhe (vorrangig), ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Beantragung (ggf. für Kinder geringere Höhe),

5.  bedingungslos – die Zahlung erfolgt, ohne dass man arbeiten oder seine Arbeitsbereitschaft nachweisen muss, und es besteht auch keine Verpflichtung zur Selbsthilfe.

In der deutschen Debatte wird ein zusätzliches Kriterium hinsichtlich der Höhe eines BGE in die Debatte gebracht, die gleichwohl von etlichen internationalen Befürwortenden (vgl. stellvertretend van Parijs 2021) in dieser Form nicht geteilt wird:

6.  in existenzsichernder Höhe, die gesellschaftliche Teilhabe möglich macht.
 

Das Bürgergeld: wirklich ein erster Schritt Richtung Grundeinkommen?

In den aktuellen sozialpolitischen Debatten um die Überwindung von „Hartz IV“ hin zu einem Bürgergeld behaupten die Gegner*innen dieser Reform vielfach, dass schon diese der erste Schritt ins BGE sei und entsprechende soziale Konsequenzen drohten: Die Menschen würden aufhören zu arbeiten, sie würden sich sozial isolieren, und die Spaltung der Bevölkerung in weiterhin Beschäftigte und ausschließlich auf Grundeinkommen angewiesene Gruppen würde vorangetrieben.

Befürworter hingegen argumentieren, die Menschen würden von der Wahlmöglichkeit, schlechte Arbeit ablehnen zu können, keineswegs massenhaft Gebrauch machen und weiterhin erfüllender Arbeit nachgehen, kreativer und gemeinnütziger werden und den sozialen Zusammenhalt stärken. Ohne an dieser Stelle auf die nicht inhaltlich ausgerichteten, sondern organisationsstrategisch ansetzenden Argumentationen einzugehen, bleibt festzuhalten: Auch nach dem von der Regierung vorgelegten Entwurf eines Bürgergeld-Gesetzes gelten nach wie vor folgende Kernelemente einer Gewährung von Grundsicherungsleistungen:

  • Prinzip der Selbsthilfe vor der Gewährung staatlicher Leistungen (nachrangige Grundsicherung)
  • Prinzip der Subsidiarität – der Haushalt bzw. die Bedarfsgemeinschaft sind anstelle des Individuums zentrale Bezugspunkte

Neben diesen Kernelemente der Grundsicherung bleiben auch die anderen Prinzipien des deutschen Sozialstaats von der Reform unberührt: Versicherungspflicht und Beitragsfinanzierung bei Versichertengemeinschaft als Grundprinzipien der Sozialversicherung, in der insbesondere Arbeitgeber und Gewerkschaften im Rahmen der Selbstverwaltung als institutionelle Akteure eingebunden sind.

Von einem grundlegenden Systemwechsel des Sozialstaates mit seiner derzeitigen „konservativen wohlfahrtsstaatlichen“ Bismarck’schen Prägung, geschweige denn einem Einstieg in das BGE sind wir also noch weit entfernt – selbst wenn „Hartz IV“ überwunden wird. Dennoch interpretieren wir diese Reform wie auch andere Maßnahmen wie die bedingungsärmere Grundsicherung, die geplante Kindergrundsicherung und auch die geplante Einführung des Klimageldes als weitere Schritte hin zu einem Grundsicherungsstaat mit vermehrt universalistischeren, individualistischeren sowie garantistischeren Elementen. Dieser Wandel läuft schon seit Jahrzehnten, und wir haben ihn in unserem Buch (Heinze/Schupp 2022) nachgezeichnet. Zugleich ist aber aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren, wie sich Institutionen der sozialen Sicherung wandeln bzw. wandeln können und warum es zu Verzögerung kommen kann. Denn häufig reichen ein Lösungsvorschlag, der Wunsch eines politischen Akteurs oder der „einfache“ Problemdruck nicht aus, um Änderungen zu bewirken – mehrere solcher Elemente müssen zum richtigen Zeitpunkt aufeinandertreffen. Das gilt besonders, wenn es um die Änderung von Strukturen geht. Und da gerade in Deutschland die soziale Sicherung ein sensibles Thema ist, das breite Bevölkerungsgruppen insbesondere in Krisenphasen intensiv berührt, neigen die politischen Akteure dazu, eher auf Fortsetzung des Status quo zu setzen und grundlegende Reformen hinauszuzögern.

Die Corona-Pandemie als Diskussionsbeschleuniger

Dass dem Narrativ des Grundeinkommens dennoch so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, liegt auch an der seit Frühjahr 2020 grassierenden Corona-Pandemie. Die Pandemie hat bestehende Schwächen in der sozialstaatlichen Architektur sichtbar gemacht und seit längerem verschleppte systemische Veränderungen im sozialen Sicherungssystem bewirkt. So wurde im Feld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eine bedingungsarme Grundsicherung etabliert, die einzelne Funktionsdefizite der traditionellen sozialpolitischen Maßnahmen wenigstens temporär zu überwinden vermochte. Durch das im März 2020 beschlossene Sozialschutzpaket wurden weitreichende Verfahrensänderungen im Sozialgesetzbuch (SGB) II umgesetzt, über die ein Weg in eine bedingungsarme Grundsicherung geebnet wurde. Die Änderungen zielten vor allem darauf ab, schnelle und unbürokratische Zugänge zur sozialen Sicherung sowie eine zügige Bereitstellung von Geldzahlungen für den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Dadurch wurde die bislang bestehende strikte Konditionalisierung von Leistungen sowie die aufwändige Prüfung von Vermögensrücklagen deutlich abgeschwächt (vgl. Beckmann et al. 2021).

In die gleiche Richtung wie die Krisenreaktionen der Corona-Phase zielen die von der neuen Bundesregierung initiierte Wende zum Bürgergeld, die Kindergrundsicherung sowie das geplante Klimageld. Diese Vorschläge sind einerseits den Konjunkturen der öffentlichen Grundeinkommensdebatte und andererseits den Erfahrungen mit einer bedingungsärmeren Grundsicherung geschuldet.

Dieser Politikwechsel ist auch eine Antwort auf die Defizite des traditionellen Systems sozialer Sicherung in Deutschland, das an mehreren Stellen schon länger (etwa bei der Kinderarmut) strukturelle Schwächen aufweist. Wir sehen deshalb – in Übereinstimmung mit anderen Sozialpolitikforscher*innen – in den genannten Schritten eine Fortsetzung der schleichenden Transformation von einer beitragsfinanzierten Lebensstandardabsicherung in einen Grundsicherungsstaat mit einer universalistischen Sozialintegration: „Die sozialpolitischen Debatten und – ihnen entweder folgend oder vorausgehend – Reformen im Leistungsbereich haben sich von der klassischen Sozialversicherungsstaatlichkeit in Richtung Grundsicherungsstaatlichkeit verschoben.“ (Nullmeier 2019, S. 33 oder jüngst Busemeyer et al. 2022, S. 380 aus europäisch-vergleichender Perspektive)

Vom bedingungslosen Grundeinkommen lernen?

Der Sozialstaat bewegt sich also – die Grundsicherung wird wichtiger. Vor diesem Hintergrund sind verschiedene Gründe anzuführen, das Grundeinkommensthema jenseits der eingefahrenen und oft ideologisch gefärbten Argumentationsstränge als eine Antwort auf wohlfahrtsstaatliche Problemlagen zu behandeln, zumal die Herausforderungen nicht nur durch externe Effekte wie die Corona-Pandemie in Zukunft vermutlich eher größer werden. Hier ist an den schon seit einigen Jahrzehnten ablaufenden demografischen Wandel und insbesondere die Alterung der Bevölkerung sowie an die Digitalisierungsprozesse mit all ihren Auswirkungen auf das erwerbsarbeitszentrierte deutsche Modell der sozialen Sicherung zu denken. Es sind nicht nur die sich schlagartig verbreitenden Home-Offices, die auf eine Transformation der Arbeit hinweisen, sondern insgesamt beschleunigt die Digitalisierung und die damit gewachsene Flexibilisierung und Individualisierung in einzelnen Wirtschaftssektoren die seit vielen Jahren zu beobachtende Erosion des traditionellen kollektiven Schutzes der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hin zu Formen von (Solo-)Selbständigkeiten, Honorartätigkeiten, Remote-Arbeitenden sowie sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen. Dies betrifft nach Schätzungen fast die Hälfte der derzeitigen Arbeitsplätze und erfordert neue institutionelle arbeits- und sozialpolitische Absicherungen. Die bisher übliche Zeitverzögerung bspw. bei der politischen Bearbeitung demografischer Herausforderungen dürfte allerdings nicht mehr die adäquate Antwort sein, denn wie auch in der Klimapolitik drängt die Zeit. Beckmann/Spohr (2022) zeigen, wohin sich Arbeit und Beschäftigung in einem flexiblen digitalen Kapitalismus mit Plattformarbeit entwickeln kann. „Dies umfasst nicht zuletzt die etablierten Institutionen der sozialen Sicherung in Form der Sozialversicherung. Plattformarbeitende sind in der Regel formal solo-selbstständig erwerbstätig und fallen folglich – zumindest mit Blick auf ihre plattformbezogenen Tätigkeiten – durch das beitrags- und normalarbeitszentrierte Sozialversicherungsnetz. Somit muss die soziale Absicherung entweder privat erfolgen oder über eine sozialversicherungspflichtige abhängige Hauptbeschäftigung.“ (dies, S. 299)

Die Autoren eint zwar einerseits die hohe Wertschätzung des Systems sowie des Leistungsumfangs der sozialen Sicherung in Deutschland, aber nicht minder skeptisch wird andererseits die mittel- und langfristige Zukunftsfähigkeit dieses Systems bewertet. Vor diesem Hintergrund wird empfohlen folgende drei Argumentationsstränge miteinander zu verknüpfen:

  • eine ideologiebefreite Auslotung möglicher neuer garantistischer Elemente sozialer Sicherung
  • die Förderung einer öffentlichen Infrastruktur
  • aktivierende Sozialräume.

Eine in diesem Sinne fortentwickelte Grundsicherungsstaatlichkeit könnte unterschiedliche Modelle einer gemeinwohlorientierten und produktiven Zeitverwendung befördern und sinngebende Tätigkeitsformen auch für diejenigen Gruppen eröffnen, die auf den flexibilisierten und dynamisierten Arbeitsmärkten keine Anerkennung finden. Darüber hinaus können garantistischere Sicherungen als Sprungbrett für Existenzgründungen und generell soziale Innovationen wirken, da sie die in der Gründungsphase auftretenden Erfolgs- und Absicherungsfragen mildern und ein bürokratiebefreites Sicherheitsnetz vorhalten. Uns geht es darum, bipolare Argumentationsstränge zu überwinden und das traditionelle System der sozialen Sicherung um universalistische Elemente zu ergänzen. Es geht nicht um die Alternative zwischen einem BGE und einem sozialökologischen und demokratischen Infrastrukturstaat, vielmehr muss eine zukunftsfähige soziale Sicherung sowohl Elemente des Grundeinkommens als auch eine gemeinnützige Daseinsvorsorge auf lokaler Ebene umfassen. Ein solcher Pfadwechsel wird allen Erfahrungen nach schrittweise ablaufen und vermutlich dem schleichenden Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Steuerungslogiken in Richtung auf eine universalistische Sozialstaatlichkeit (shifting baselines) folgen (vgl. ausführlich Heinze/Schupp 2022).

Über die Sozialpolitik hinaus denken!

Die Transformation des Sozialstaates geht deshalb über die reine Sozialpolitik hinaus und muss konstruktive Antworten auf Herausforderungen in der Arbeitsmarkt-, Familien- und Gesellschaftspolitik wie auch der Wirtschafts- wie Klimapolitik finden. Deshalb sollten die gegenwärtigen Frontstellungen überwunden werden, um mögliche künftige Entwicklungspfade bei einem sozial-ökologischen Umbau nicht aufgrund von Denkblockaden ungeprüft vorzeitig zu verwerfen. Unseres Erachtens lassen sich Argumente für die These einer fortschreitenden, sich stufenartig aufbauenden universalistischeren sozialen Sicherung stark machen, wohl wissend, wie schwierig Politikwechsel gerade im „stählernen Gehäuse“ der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und deren Verwaltung sind. Tiefergehende Sozialstaatsreformen sind in Deutschland selten und zumeist heftig umstritten. Der schrittweise sich dennoch vollziehende, stille Wandel hin zu garantistischen Lösungen wird von den Akteuren im deutschen Sozialversicherungsstaat mit seiner Vielzahl von Institutionen und paritätisch besetzten Gremien und Verwaltungseinheiten bislang gern übersehen, wohl auch um die konkreten Organisationsinteressen nicht anzutasten oder zumindest in Frage stellen zu müssen. Deshalb werden sich auch die Gegner von Grundeinkommensmodellen vor allem in den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Organisationen sammeln und auf die Einhaltung der Normalität des deutschen Sozialstaatsmodells drängen oder sie als neoliberales Gedankengut bzw. Stilllegungsprämie zu diskreditieren und abzuwehren versuchen. Nicht umsonst haben sich in vielen Grundzügen im deutschen Sozialstaat wesentliche Elemente einer Bürokratisierung und Fragmentierung bis heute erhalten und werden gefördert durch das Beharrungsvermögen der traditionellen sozialpolitischen Akteure und Organisationen. Zu grundlegenden Reformen kommt es aber nur, wenn sowohl ein Grundkonsens in der Politik gefunden wird als auch zentrale Entscheidungsträger in der Verwaltung dahinterstehen.

Die durch die Corona-Krise erzwungene Erprobung bedingungs- und bürokratieärmerer Formen der Grundsicherung hat mitgeholfen, die einseitige Fixierung auf die Finanzierungsperspektive zu überwinden bzw. zurückzustellen. Es geht dabei nicht nur um eine für alle Gesellschaftsmitglieder sanktionsfrei zu erhaltende Basissicherung, sondern vor allem auch um die derzeit empirisch offene Frage, wie die größer gewordenen (Frei-)Zeitpotenziale produktiv und auch in Zeiten einer beschleunigten Umsetzung von Klimazielen ressourcenschonend genutzt werden können. Auch wenn man nicht das Menschenbild teilt, dass sich bei einem bedingungslosen Grundeinkommen viele passiv in das soziale Sicherungsnetz zurückziehen, woran es ohnehin durch empirische Untersuchungen Zweifel gibt (vgl. Schupp 2020), ist die Frage nach der sinnvollen und selbstbestimmten Zeitverwendung und staatlich zu gewährleistenden inklusiven Infrastrukturen von großer Bedeutung (vgl. Heinze 2020).

Schon vor der Corona-Pandemie wurde vermehrt auf die Herausforderungen einer fragmentierten Gesellschaft mit wachsenden sozialen Polarisierungen und ökologischen Gefährdungen hingewiesen, die mittelfristig nicht über die etablierten Institutionen wohlfahrtsstaatlicher Sicherung gelöst werden können. So wurde bspw. im Rahmen des Sechsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung in einer Längsschnittstudie festgestellt, dass es in Deutschland über die letzten 30 Jahre zu einem systematischen Rückgang der Aufstiegsmobilität aus unteren sozialen Lagen der Armut oder Prekarität gekommen ist (vgl. Groh-Samberg et al. 2020).

Das Grundeinkommen und Verteilungsfragen

Über ein Grundeinkommen könnten die sozialen Ungleichheiten zwar nicht beseitigt, aber zumindest dahingehend gemildert werden, dass ein Sicherheitsnetz sowohl für derzeit in verdeckter Armut lebende Menschen als auch für Teile der Mittelschicht, die von Abstiegsängsten verunsichert sind, geknüpft würde. So ließen sich die Unwägbarkeiten der vielfältigen Transformationen (von der Digitalisierung, dem demografischen Wandel bis zur Energiewende) besser zu bewältigen. Derzeit führen insbesondere die inflationär steigenden Energiekosten in Deutschland zu erheblichen finanziellen Belastungen für die Haushalte und machten sozialpolitische Sofortmaßnahmen sowie Entlastungspakete der Regierung erforderlich. Der Einstieg in ein Energie- oder Klimageld als Sozialausgleich und unbürokratischer Weg für Direktzahlungen ermöglicht einen entsprechenden Auszahlungsweg für künftige Pro-Kopf-Entlastungen (negative Einkommenssteuer) nahezu aller Bevölkerungsgruppen. Neben bedarfsorientierten Transferzahlungen an einkommensschwache Haushalte mit vergleichsweise geringen Anreizen zu Energieeinschränkungen werden folglich Vorschläge diskutiert, die mit Formen eines für alle Bürger*innen gleich hohen partiellen Grundeinkommens (Klimageld) kompatibel wären. Wir sehen dies als einen weiteren Beleg der These eines „stillen“ Wandels hin zum universalistischen Grundsicherungsstaat.

In der Bevölkerung sind Konzepte zum bedingungslosen Grundeinkommen bereits vor wie auch während der Corona-Krise auf eine größer werdende Zustimmung gestoßen. So sprach sich bei einer Befragung des Demokratiemonitors im Jahr 2019 mehr als die Hälfte einer repräsentativen Stichprobe in unterschiedlichen Graden für die Idee eines Grundeinkommens aus, und „nur“ weniger als ein Drittel plädierte gegen einen Systemwechsel der sozialen Sicherung (Lüders/Schroeder 2019, S. 359). Dennoch unterscheiden sich nicht nur in wissenschaftlichen Debatten seit Jahren auch die Anteile von Befürwortern und Gegnern in der Bevölkerung. So belegen Befragungsergebnisse, dass seit der Jahreswende 2016/2017 bis Herbst 2018 die Zustimmungsrate zur Einführung eines BGE weitgehend stabil sowie tendenziell steigend war und einen Wert zwischen 45 und 55 Prozent erreichte (vgl. Schupp 2020). Bei der zuletzt im Rahmen des SOEP durchgeführten Erhebung im Herbst 2019 lag die Zustimmungsrate zu einem BGE einige Prozentpunkte niedriger als im Jahr zuvor bei nunmehr 48 Pozent. In Ostdeutschland lag der Grad der Zustimmung bei 58 Prozent, in Westdeutschland bei 46 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (Adriaans et al. 2019).

Ergebnisse einer im August 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage unter der erwachsenen deutschen Bevölkerung mit Online-Zugang, die im Rahmen der COMPASS-Erhebungen erfolgte, dokumentieren auch nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sowie der weltweit gestiegenen Energie- und Nahrungsmittelpreise einen hohen Grad an Zustimmung zu einem BGE.

So sprach sich eine Mehrheit von 53 Prozent für ein BGE aus, 36 Prozent waren dagegen. Bei der Interpretation der gestiegenen Zustimmungsraten sollte man gleichwohl nicht notwendigerweise auch von einer daraus ableitbaren konkreten Reformbereitschaft hin zu einem BGE ausgehen. Denn die Erläuterung der bei den Umfragen eingesetzten international vergleichbaren Survey-Frage macht einerseits nicht explizit, welche konkrete Höhe eines Grundeinkommens damit verbunden wäre, welche Sozialleistungen künftig gestrichen und welche erhalten blieben, wieviel vom Bruttoverdienst man nach Einführung eines BGE noch netto behalten dürfte und beantwortet natürlich nicht, welche Steuern zur Finanzierung eines BGE vermutlich erhöht werden müssten.

Die Befragungsdaten verweisen aber darauf, dass der öffentliche Diskurs die Dynamik um das Narrativ des Grundeinkommens antreibt. Vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Problemlagen infolge der Bewältigung der aktuellen Krise, einer hohen Inflation sowie in naher Zukunft wegen der erforderlichen Transformationsprozesse zur Dekarbonisierung dürfte die Themenkonjunktur nicht zuletzt auch wegen der durch die sozialen Medien vorangetriebenen Diskurse anhalten. Allerdings besteht die Gefahr einer Kontinuität polarisierter Auseinandersetzungen, so dass differenzierte und auch multidisziplinäre wissenschaftliche Expertise notwendig ist, die über ein im Sommer 2020 vorgestelltes Gutachten des Beirats beim Bundesministerium der Finanzen hinaus reicht. Durch die Ausbreitung von parallelen Öffentlichkeiten wird die Abschätzung der Erfolgsaussichten für eine strukturell angelegte Reform der sozialen Sicherung schwieriger, weil sich mit den Funktionsverlusten der traditionellen Politikakteure auch populistische Mobilisierungsmuster ausgebreitet haben. Wenn es auch nicht zu einer Reform aus einem Guss kommen wird, so haben sich doch in den letzten Jahren Stellschrauben bewegt, die in der Regierungspolitik Wirkung zeigten und sich möglicherweise zu Kipp-Punkten für die annähernd 150 Jahre andauernde systemische Stabilität des konservativen Typus eines Wohlfahrtsstaats entwickeln. Offensichtlich ist in breiten Teilen der Bevölkerung ein starkes Interesse anzutreffen, über grundsätzliche Alternativen zum bestehenden System sozialer Sicherung nachzudenken wie auch daran, sie zu erproben und zu evaluieren. Wenn dieses System künftig stärker um Elemente individualisierter sowie bedingungsarmer oder gar bedingungsloser Anrechte erweitert wird, birgt dies das Potenzial einer überlegenen Alternative zum bisherigen Wohlfahrtsstaatsmodell. Es sollte dabei eng verzahnt sein mit einem investierenden und koordinierenden Staat im Bereich der Infrastruktur und Daseinsvorsage und den Prinzipien der Bürgerfreundlichkeit, der nachhaltigen und inklusiven soziokulturellen Existenzsicherung verpflichtet sein.

Literatur

Adriaans, J./Liebig, S./Schupp, J., 2019: Zustimmung für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eher bei Jungen, besser Gebildeten sowie in unteren Einkommensschichten anzutreffen, in: DIW-Wochenbericht 86 (15), S. 264-270.

Beckmann, F./Heinze, R.G./Schad, D./Schupp. J., 2021: Klima der Angst oder Respekt auf Augenhöhe? Erfahrungen von Hartz IV-Beziehenden mit Jobcentern im Zuge der Corona-Pandemie, in: Sozialer Fortschritt 70 (10-11), S. 651-669.

Beckmann, F./Spohr, F., 2022: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik. Grundlagen, Wandel, Zukunftsperspektiven. München: UVK Verlag.

Busemeyer, M. /Kemmerling, A./Marx, P./van Kersbergen, K., 2022: Digitalization and the Future of the Democratic Welfare State, in: Busemeyer, M. et al. (eds.), Digitalization and the Welfare State, Oxford: Oxford University Press, S. 373-392.

Groh-Samberg, O./Büchler, T./Gerlitz, J.-Y., 2020: Soziale Lagen in multidimensionaler Längsschnittbetrachtung. Begleitforschung zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: BMAS.

Heinze, R.G., 2020: Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, Wiesbaden: Springer VS.

Heinze, R.G./Schupp, J., 2022: Grundeinkommen – Von der Vision zur schleichenden sozialstaatlichen Transformation. Wiesbaden: Springer VS.

Lüders, K./Schroeder, W., 2020: Die Legitimität des Sozialstaats, in: Kneip, S./Merkel, W./Weßels, B. (Hg.), Legitimitätsprobleme. Zur Lage der Demokratie in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS, S. 341-364.

Nullmeier, F., 2019: Die Sozialstaatsentwicklung im vereinten Deutschland. Sozialpolitik der Jahre 1990 bis 2013, in: Schroeder, W./Schulze, M. (Hg.), Wohlfahrtsstaat und Interessenorganisationen im Wandel, Baden-Baden: Nomos, S. 19-40.

Schupp J., 2020: Bedingungsloses Grundeinkommen: Viel Zustimmung, aber auch große Ablehnung, in: Wirtschaftsdienst, 100 (2), S. 112-116.

Van Parijs, P., 2021: Climate change and the COVID-19 pandemic: crucial pushes or deadly blows for basic income?, in: D. Rodenhäuser/H. Vetter/B. Held/H. Diefenbacher (Hg.), Soziale Sicherungssysteme im Umbruch, Marburg: Metropolis-Verlag, S. 193-211.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2021: Bedingungsloses Grundeinkommen. Gutachten 02-2021. Berlin.

 

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Autoren

Rolf G. Heinze war von 1988 bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum, seit 2021 ist er Seniorprofessor an der Ruhr-Universität Bochum.

Jürgen Schupp ist Wissenschafler und Senior Research Fellow in der forschungsbasierten Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) am DIW Berlin. Seit 2013 ist er Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Empirische Sozialforschung am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.

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