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WSI Blog Schaefer

Claus Schäfer, 20.10.2022: Was ist (die neue) Grundsicherung?

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende löst nicht ein, was ihr Titel verspricht. Die neue Grundsicherung hingegen soll den Sozialstaat „komplett machen“ – als eine zweite elementare Säule des Sozialstaats neben der gesetzlichen Sozialversicherung.

Auf der WSI-Tagung am 21.6.2022 zum Motto „Grundsicherung weiterdenken“ wurden von mehreren Referent*innen einzelne Bestandteile einer „weiter gedachten“ bzw.  „erweiterten“ Grundsicherung präsentiert und diskutiert: die Berechnung der Regelbedarfe, arbeitsmarkt- und wohnungspolitische Fragen und auch die europäische Perspektive. Es stellt sich aber die Frage: Was ist eigentlich das Gemeinsame und Verbindende dieser Teile? Oder: Was ist generell eine „neue“ Grundsicherung?

Die verschiedenen Aspekte, die auf der Tagung diskutiert wurden, zeigen, dass es um weit mehr als nur ein deutlich reformiertes Hartz IV geht. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende trägt den offiziellen Titel Grundsicherung zu Unrecht, weil sie statt des im Titel enthaltenen sozialstaatlichen Versprechens eine realpolitische Enttäuschung darstellt. Die neue Grundsicherung dagegen soll nichts weniger sein als eine zweite elementare Säule des Sozialstaats neben der gesetzlichen Sozialversicherung, die den „Sozialstaat erst komplett macht“.

Konstruktionsprinzipien der neuen zweiten Säule des Sozialstaats

Im Folgenden möchte ich die Konstruktionsprinzipien dieser zweiten Säule beschreiben und anhand von einigen ausgewählten thematischen Beispielen näher erläutern.

  1. Bei den von dieser Säule ausgehenden Leistungen handelt es sich um öffentliche Geldtransfers oder öffentliche Güter und Dienstleistungen, häufig auch miteinander kombiniert. Der Zugang zu diesen Transfers und Gütern wird durch individuelle starke, notfalls einklagbare Rechte erschlossen. Die Rechte dirigieren tendenziell das Zusammenspiel von staatlichen Transfers und öffentlichen Gütern.
  2. Erstrebenswert ist, dass der Zugang zu den Leistungen faktisch automatisch ist, um im Gegensatz zu heute die teilweise extremen Dunkelziffern der Nicht-Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen zu vermeiden. Damit sollen sozialstaatliche Zielsetzungen in der praktischen Umsetzung eben nicht wie gegenwärtig verfehlt werden.
  3. Die Leistungen richten sich prinzipiell an alle Individuen, also ohne Bindung an irgendeinen sozialen oder persönlichen Status. Die einzige Ausnahme ist bei einigen Leistungen die direkte oder indirekte Abhängigkeit vom jeweiligen Lebensalter des bzw. der Leistungsberechtigten.
  4. Das generelle Ziel aller Leistungen ist die Entfaltung und Bewältigung des individuellen Lebensverlaufs. Damit soll auch die bisher im politischen Raum eher vernachlässigte Vermeidung von sozialem Ausschluss bzw. die Gewähr von gesellschaftlicher Inklusion einhergehen.
  5. Die Dauer der Leistungsgewährung reicht von einigen Jahren über durchaus mögliche wiederkehrende Leistungsperioden bis hin zur lebenslangen oder kontinuierlichen Nutzung.
  6. Das Verhältnis der neuen Grundsicherung zur anderen großen Säule des Sozialstaats, der gesetzlichen Sozialversicherung, ist interaktiv und muss daher immer im Blick behalten werden: Unzureichende Leistungen der einen Säule können die andere Säule und deren Leistungen belasten, und umgekehrt können ausreichende adäquate Leistungen in einer Säule die jeweils andere Säule entlasten.

Diese zunächst mehr oder weniger abstrakten Konstruktionsprinzipien möchte ich wie angekündigt anhand von einzelnen Leistungsbeispielen näher erläutern. Dabei hat die Auswahl der Beispiele auch mit ihrer Anschlussfähigkeit an die aktuelle politische Praxis und speziell die Agenda der gegenwärtigen Bundesregierung zu tun.

Die Kindergrundsicherung

Ich möchte mit einer besonders gewichtigen Leistung beginnen, die auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung prominent angekündigt ist: der Kindergrundsicherung (KGS). Sie soll möglichst alle bisherigen kinderbezogenen sozialstaatlichen Transferleistungen bündeln und vor allem vom Kopf auf die Füße stellen, sprich: endlich gerecht machen. Dazu sollen die Transfers, die zunächst für alle Kinder gleich hoch ausfallen, der Einkommensteuerpflicht ihrer jeweiligen Eltern unterworfen werden, so dass im Gegensatz zu heute bei „armen“ Kindern der Leistungssatz ungeschmälert verbleibt, während er bei „reichen“ Kindern mit dem elterlichen Grenzsteuersatz abgeschmolzen wird. Zu diesen und weiteren Details einer KGS kann ich mir weitere Ausführungen ersparen, weil sie und die dazugehörigen Argumente ausführlich auf der Homepage des „Bündnis Kindergrundsicherung“ nachzulesen sind, das sich seit über zehn Jahren als Zusammenschluss von sehr vielen Sozialverbänden um die Forderung nach einer KGS verdient gemacht hat.

In unserem Kontext ist wichtig: Die KGS würde an Kinder und Jugendliche rund zwei Jahrzehnte lang gezahlt, mit einem Anschluss durch ein reformiertes Bafög für Auszubildende und Studenten möglicherweise noch rund ein weiteres Jahrzehnt länger. Und die KGS-Leistung würde nach der Geburt jedes Kindes automatisch von der Familienkasse oder dem Finanzamt an die jeweilige Familie monatlich ausgezahlt. Analog zur heutigen Bestimmung des kindlichen Existenzminimums im Steuerrecht in Gestalt des Kinderfreibetrags wird vom „Bündnis Kindergrundsicherung“ eine Höhe der KGS von 699 Euro pro Kind und Monat gefordert, um wie in der steuerrechtlichen Begründung neben dem sächlichen Existenzminimum (455 Euro) durch weitere 244 Euro auch ausreichende Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsmöglichkeiten (BEA) und damit die Sicherstellung sozialer Inklusion zu gewährleisten. Das „Inklusionsminimum“ soll jedenfalls so lange gezahlt werden, wie im Sozialstaat Deutschland momentan die öffentliche Infrastruktur für solche BEA-Leistungen nicht ausreichend ist, weder mit Blick auf die Quantität, die Qualität noch bei ihrer sozialen Verteilung.

Die Leistungshöhe der herkömmlichen Grundsicherung neu bestimmen!

Dieser Betrag von 699 Euro macht zugleich eindringlich deutlich, dass eine befriedigende KGS unmittelbar auch eine entsprechende Reform der Leistungshöhe bei der Grundsicherung für Erwachsene in Hartz IV bedeuten muss. Denn bei Letzterer liegt der Regelsatz für leistungsberechtigte Erwachsene zurzeit bei lediglich 449 Euro, so dass von Verbänden, Wissenschaft und Politik schon lange eine Erhöhung um etwa 200 Euro im Monat auch völlig unabhängig von einer KGS verlangt wird. Das von der Berliner Koalition angekündigte „Bürgergeld“ als Nachfolgeregime für Hartz IV müsste also in solche Dimensionen vorstoßen, wenn es seinem Namen und seinem Anspruch gerecht werden sollte. Auf weitere wichtige Aspekte des zukünftigen Bürgergelds will ich hier erst gar nicht eingehen (wie die Sanktionen, die heute fehlende Inklusion von Stromkosten in die Wohnkosten und andere Baustellen mehr).

Im Hinblick auf die oben erwähnten Konstruktionsprinzipien der neuen Grundsicherung will ich lediglich darauf hinweisen, dass ein Bürgergeld für Erwachsene am besten im Lebensverlauf überhaupt nicht, im schlimmsten Fall aber mehr als einmal in Anspruch genommen werden kann. Dieser schlimmste Fall hängt auch von der schon erwähnten Interaktivität mit Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung ab, in diesem Fall konkret der Arbeitslosenversicherung, deren Leistungen in der Vergangenheit bei Leistungsvoraussetzungen wie Bezugsdauer stark eingeschränkt wurden, so dass sie heute nur noch eine Minderheit der faktisch Arbeitslosen „versorgt“. Eine Reform von Hartz IV in Richtung eines wohlverstandenen Bürgergelds setzt also auch eine adäquate Reform der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung voraus, die die Einschränkungen tendenziell rückgängig macht, um das Bürgergeld entsprechend zu entlasten. Selbst die Wiedereinführung der früheren Arbeitslosenhilfe ist in diesem Zusammenhang diskutabel, um den sozialen Abstieg vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II bzw. Bürgergeld zumindest für einige Jahre abzufedern.

Möglicherweise erübrigt sich aber auch die Wiedereinführung der Arbeitslosenhilfe, wenn – wie an anderer Stelle des Koalitionsvertrags angekündigt – ein Qualifizierungsgeld zusätzlich zum Bürgergeld dafür sorgen soll, dass die (Wieder)Integration in den Arbeitsmarkt weit besser als unter den gegenwärtigen Umständen gelingt. Ein solches Qualifizierungsgeld ist übrigens auch Bestandteil der neuen Grundsicherung und nicht nur für arbeitslos Gewordene gedacht, sondern auch für schon von Arbeitslosigkeit Bedrohte oder auch für (Um)Qualifizierungswillige.

Bedingungslose Grundzeiten und öffentliche Infrastrukturen

Zwei weitere Aspekte der neuen Grundsicherung sollen noch kurz angesprochen werden, die im individuellen Lebensverlauf wiederkehrende Grundsicherungsleistungen darstellen und sogar lebenslang oder kontinuierlich in Anspruch genommen werden. (Weitere Leistungsbeispiele finden sich bei Schäfer 2022 sowie im Sammelband von Blank, Schäfer, Spannagel 2022 oder wurden auf der oben genannten Tagung behandelt.)

Zu den wiederkehrenden Leistungen zählt das eben schon erwähnte Qualifizierungsgeld, das nicht auf eine einmalige Inanspruchnahme im Verlauf eines mehrere Jahrzehnte dauernden Erwerbslebens beschränkt sein soll. Es gehört zu einer Leistungsgruppe, die individuelle Zeitrechte und Geldrechte miteinander verknüpft. Bei der Qualifizierung ist es der Anspruch auf teilweise oder vollständige Freistellung von der Erwerbstätigkeit über mehrere Jahre verbunden mit einem ausreichenden Lohnersatz, dem Qualifizierungsgeld. Beim ebenfalls noch nicht vorhandenen Pflegegeld ist es die Kombination von Zeitanspruch für die Pflege von Familienangehörigen und einem ebenfalls verbundenen Lohnersatz oder einem angemessenen Geldtransfer, wenn die Pflegenden vor dem Pflegefall nicht erwerbstätig waren – auch hierzu hat die Berliner Koalition Aktivitäten angekündigt. Beim schon länger eingeführten Elterngeld handelt es sich schließlich um eine ähnliche Kombination von Zeitanspruch und Lohnersatz, wo zwar nicht grundsätzlicher reformerischer Handlungsbedarf besteht, aber durchaus solcher zu Details wie der Leistungsdauer und der nach wie vor unterentwickelten Inanspruchnahme durch Väter. Ich nenne diese Leistungsgruppe bzw. die entsprechenden individuellen Ansprüche „bedingungslose Grundzeiten“, die vor allem gegenüber jeweiligen Arbeitgebern – ohne damit verbundene Nachteile oder negative Nachwirkungen bei der Rückkehr in den Beruf bzw. den Arbeitsmarkt – durchgesetzt werden können (Schäfer 2011).

Kontinuierlich beanspruchbare Grundsicherungs-Leistungen werden durch einen möglichst einfachen Zugang zu einem ausreichenden Angebot spezifischer öffentlicher Güter bereitgestellt. Dazu gehört zum Beispiel eine verlässliche, sichere und effiziente Digital-Infrastruktur für private Zwecke, die etwa für Schüler*innen auch ein kostenloses Tablet im Rahmen einer erstrebenswerten Lernmittelfreiheit einschließen kann. Dazu zählt auch ein möglichst breitflächiges Angebot des ÖPNV für Stadt und Land, das zugleich möglichst kostengünstig ist. Das für den Sommer 2022 deutschlandweit eingeführte 9-Euro-Ticket ist eine erste, wenn auch leider sehr befristete Umsetzung einer Praxis, die in Österreich und erst recht in Luxemburg (mit sogar kostenlosem öffentlichen Verkehr) schon seit längerem geübt wird. Und auch beim quantitativen und qualitativen Angebot des ÖPNV selbst sind andere Länder wie die Schweiz schon weit voraus.

Politische Umsetzungschancen jetzt nutzen!

Die auf der Tagung und hier skizzierte Konzeption einer neuen Grundsicherung als weiterer fundamentaler Säule des Sozialstaats ist ohne weiteres politisch anschlussfähig und auch finanziell tragfähig. Sie hilft, vorhandene sozialstaatliche Leistungen zu systematisieren, Defizite dieser Leistungen zu lokalisieren, fehlende – bzw. im sozialstaatlichen Kontext naheliegende zusätzliche – Leistungen zu identifizieren und den öffentlichen Blick zu schärfen für grundlegende Bedürfnisse der Individuen nach Schutz und Chancen. Allerdings trifft die eigentlich drängende Realisierung dieser neuen Grundsicherung momentan wegen anderer Vorhaben der Ampel-Regierung und der besonderen Herausforderungen durch den Klimaschutz wie den Ukraine-Krieg auf ungünstige Rahmenbedingungen. Umso mehr wird es darauf ankommen, dass die Bundesregierung zumindest zu Anfang die Weichen in diese Richtung stellt. Dazu bieten insbesondere die Kindergrundsicherung und die Hartz IV-Reform eine erste fundamentale Gelegenheit. Wird sie entschlossen und konsequent genutzt, kann mittelfristig die neue Grundsicherung durchaus das werden, was heute von Wissenschaft und Politik der gesetzlichen Sozialversicherung an Relevanz zugebilligt wird: eine zentrale und stabile gleichrangige Säule im Sozialstaat zu sein. Damit ist übrigens nicht nur der nationale, sondern auch der europäische Sozialstaat gemeint. Diese Säule würde endlich das Versprechen für die Mitglieder der Gesellschaft einlösen, das dem Begriff „Grundsicherung“ innewohnt: Hier seid Ihr gut und sicher und ohne Diskriminierung aufgehoben.

 

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Die Beiträge der Serie:

Florian Blank (11.10.2022)
Grundsicherung weiterdenken! – Herausforderungen und Perspektiven

Peer Rosenthal/Regine Geraedts (13.10.2022)
Erste Reformschritte von Hartz IV zum Bürgergeld?

Mareike Sielaff/Felix Wilke (18.10.2022)
„das tue ich mir einfach nicht an“

Claus Schäfer (20.10.2022)
Was ist (die neue) Grundsicherung?

Rolf G. Heinze/Jürgen Schupp (25.10.2022)
Der beständige Wandel zum Grundsicherungsstaat: Krisen als Transformationstreiber

Thomas Zander/Martin Franke (27.10.2022)
Das neue Bürgergeld – ist es (un)möglich, Armut wirksam zu bekämpfen?

Autor

Claus Schäfer hat von 1972 bis 2013 am WSI geforscht mit den Schwerpunkten Öffentliche Finanzen und vor allem Verteilung. Von 2009 bis 2013 war er Leiter der Abteilung WSI in der Hans-Böckler-Stiftung.

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