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Benjamin Werner, 28.06.2018: Freizügigkeit in der EU führt nicht zu Wohlfahrtsmigration

Kommt es in der EU zu gezielter Einwanderung in die ausgebauten Wohlfahrtssysteme vor allem der nord-westlichen Mitgliedstaaten? Zumindest für Deutschland und Dänemark lautet die Antwort Nein – nicht zuletzt, weil diese Länder weitreichende Schutzmaßnahmen ergriffen haben. Probleme gibt es dennoch, wie der deutsche Fall zeigt.

Innerhalb der Europäischen Union (EU) hat sich ein umfassendes Freizügigkeitssystem herausgebildet, welches EU-Bürger/innen sowohl ausgedehnte Mobilitätsrechte als auch weitreichenden Zugang zu den Sozialsystemen anderer Mitgliedstaaten garantiert. Diese Entwicklung hat in manchen Mitgliedstaaten, etwa Deutschland, Dänemark oder Großbritannien, zunehmende Sorgen vor so genannter „Wohlfahrtsmigration“ ausgelöst. Die vergleichsweise hohen Sozialleistungsniveaus der nord-westlichen Mitgliedstaaten würden, so die Befürchtung, EU-Bürger/innen aus den ärmeren Mitgliedstaaten vor allem Osteuropas zum Einwandern motivieren. Dies gefährde jedoch die finanzielle Bestandsfähigkeit der aufnehmenden Wohlfahrtsstaaten, da nun Personen in den Genuss von Sozialleistungen kommen würden, die zu deren Bereitstellung keinen Beitrag geleistet hätten.

Doch diese Sorgen vor gezielter Einwanderung in die Sozialleistungssysteme durch Unionsbürger/innen sind unbegründet – was sich gut anhand verschiedener Kennzahlen zu Deutschland und Dänemark festmachen lässt.

Der Blick auf diese beiden Mitgliedstaaten zeigt zunächst, dass beide Länder laut Eurostat zwischen 2007 und 2015 enorme Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten erfahren haben (Deutschland +41 Prozent, Dänemark sogar +113 Prozent). Und in beiden Fällen sind diese Zuwächse fast ausschließlich auf Zuwanderung aus den 2004 und 2007 beigetretenen osteuropäischen Mitgliedstaaten zurückzuführen. Im Lichte des Eingangs skizzierten Wohlfahrtsmigrationsszenarios erscheint das erstmal passend: Es hat tatsächlich eine enorme Wanderungsbewegung von Ost nach West bzw. von Arm nach Reich stattgefunden.

Betrachtet man weiter, inwieweit sich im selben Zeitraum der Bezug von Grundsicherungsleistungen (kontanthjælp bzw. Leistungen nach SGB II) durch EU-Bürger/innen in Dänemark und Deutschland entwickelt hat, sieht man zudem deutliche absolute Zuwächse. Tatsächlich beziehen heute etwa mehr als doppelt so viele Unionsbürger/innen in Deutschland und Dänemark diese Leistungen als noch zehn Jahre zuvor. Auch das scheint für die Wohlfahrtsmigrationsthese zu sprechen. Werden diese absoluten Zahlen aber in Relation zu allen in Dänemark und Deutschland lebenden Unionsbürger/innen gesetzt, zeigt sich bemerkenswertes. Wie das obige Schaubild zeigt, hat der Sozialleistungsbezug durch EU-Bürger/innen in Deutschland auch relativ zugenommen (+33,7 Prozent), in Dänemark jedoch nicht – hier ist er relativ konstant geblieben und hat jüngst sogar wieder abgenommen (-29,6 Prozent). Obwohl Dänemark den vergleichsweise wohl generösesten Wohlfahrtsstaat in der EU hat, ist er offenbar nicht Ziel von innereuropäischer Wohlfahrtsmigration. 

Ein wesentlicher Grund für die nicht nachzuweisende Sogwirkung des dänischen Sozialstaats dürfte in dem – von den Kritikern des EU-Freizügigkeitssystem oft übersehenen – Umstand liegen, dass das EU-Recht den Mitgliedstaaten nach wie vor Möglichkeiten eröffnet, gezielte Einwanderung in die Sozialsysteme zu unterbinden. So erlaubt etwa die Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 (RL 2004/38/EG) explizit, dass frisch eingewanderten nicht-erwerbstätigen, arbeitssuchenden oder studierenden Unionsbürger/innen Sozialleistungen verweigert werden dürfen. Auch der EuGH hat diese Ausschlussmöglichkeiten jüngst in einer ganzen Reihe von Entscheidungen (Dano, Alimanovic, usw.) bestätigt. 

Dänemark hat umfassend von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht und nicht-arbeitende EU-Bürger/innen solange von Sozialleistungen ausgeschlossen, bis diese entweder Arbeitnehmerstatus oder ein Daueraufenthaltsrecht erlangt haben. Im Zuge der jüngsten Diskussionen über Wohlfahrtsmigration hat Dänemark diese Ausschlusspraktiken sogar noch verschärft, indem die Verwaltungen angewiesen wurden, genauer und vor allem strikter zu prüfen, ob leistungsbeantragende EU-Bürger/innen tatsächlich über Arbeitnehmerstatus oder Daueraufenthaltsrecht verfügen. Angesichts dieser restriktiven Umgangsweise mit auf Sozialleistungen angewiesenen Unionsbürger/innen ist das Ausbleiben von Wohlfahrtsmigration in Dänemark also kein Wunder. 

Doch auch Deutschland hat arbeitssuchende und andere nicht-erwerbstätige Unionsbürger/innen von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen bis sie Arbeitnehmerstatus oder Daueraufenthaltsrecht nachweisen können. Anders als in Dänemark ist der Sozialleistungsbezug durch EU-Bürger/innen aber dennoch deutlich angestiegen. Haben wir es hier also mit Wohlfahrtsmigration zu tun? 

Das lässt sich bezweifeln. Zwar ist dieser Zuwachs tatsächlich – entsprechend des Wohlfahrtsmigrationsszenarios – zum ganz überwiegenden Teil auf den Zuzug von Osteuropäern zurückzuführen, aber ein genauerer Blick auf die indem folgenden Schaubild abgebildeten Bezugsdaten legt eine andere Deutung nahe. Hier zeigt sich nämlich zum einen, dass der Bezug von Grundsicherungsleistungen auch unter den EU-15-Bürger/innen angestiegen ist, also unter jenen, die nicht aus Osteuropa kommen. Dies ist insbesondere auch deshalb bemerkenswert, weil deren Anzahl in Deutschland zwischen 2007 und 2015 gesunken ist. Und zum anderen fällt auf, dass der gestiegene Bezug von Grundsicherungsleistungen vor allem durch die stark gewachsene Anzahl von Unionsbürger/innen getrieben ist, die SGB II-Leistungen als Ergänzungsleistung zu einer geringfügigen Beschäftigung erhalten („Aufstocker“). Hier sind massive Steigerungsraten sowohl bei den osteuropäischen als auch bei den EU-15-Bürger/innen zu verzeichnen.
 

Beides deutet darauf hin, dass der gestiegene Sozialleistungsbezug von Unionsbürger/innen in Deutschland daher nicht auf Wohlfahrtsmigration, sondern auf deren schwindende Arbeitsmarktintegration zurückgeht. EU-Bürger/innen kommen zum Arbeiten nach Deutschland, haben dann aber offenbar zunehmend Schwierigkeiten, reguläre und vernünftig abgesicherte Arbeit zu finden. Vielmehr landen sie vermehrt in prekären Jobs im Niedriglohnbereich, wo sie dann verstärkt auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Diese Vermutung wird zudem noch durch den Umstand gestützt, dass der Bezug von regulärem, beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld (nach SGB III) unter Unionsbürger/innen zwischen 2007 und 2015 nicht nur sehr gering, sondern sogar gesunken ist. 

Die Belastung für den deutschen Sozialstaat entsteht folglich also nicht, weil EU-Bürger/innen gezielt in das deutsche Grundsicherungsnetz einwandern, sondern weil sie zunehmend von Deutschlands enorm gewachsenem Niedriglohnsektor aufgesogen werden. Das würde auch erklären, warum der Sozialleistungsbezug von Unionsbürger/innen im Gegensatz zu Dänemark in Deutschland gestiegen ist, obwohl beide Mitgliedstaaten praktisch dieselben sozialrechtlichen Maßnahmen gegen Wohlfahrtsmigration ergriffen haben. Offenbar macht die Verfassung des jeweiligen Arbeitsmarktes den entscheidenden Unterschied. Denn im Gegensatz zu Deutschland gibt es – dank starker Gewerkschaften und funktionierendem Tarifsystem – in Dänemark bislang keinen Niedriglohnsektor, der durch staatliche Ergänzungsleistungen auch noch subventioniert wird. Wer in Dänemark Arbeit findet, ist also in viel geringerem Maße auf das staatliche Sicherungsnetz angewiesen als in Deutschland. 

Auch wenn die Sorgen vor Wohlfahrtsmigration innerhalb der EU derzeit also unbegründet sind, so zeigt der deutsche Fall doch eindrücklich, dass mit der EU-Freizügigkeit trotzdem Belastungen für nationale Sozialsysteme einhergehen können. Ob es dazu kommt, hängt aber offenbar weniger von der vermeintlichen Attraktivität des Sozialleistungsniveaus, sondern vom Liberalisierungsgrad des Arbeitsmarktes ab. 

Lesehinweis 
Der vorliegende Beitrag beruht auf der jüngst im Journal of European Public Policy erschienen Studie „No welfare magnets – free movement and cross-border welfare in Germany and Denmark compared“ von Dorte Sindbjerg Martinsen und Benjamin Werner. Weitere Informationen zum Forschungsprojekt, in dessen Zusammenhang diese Untersuchung entstanden ist, finden sich unter https://www.uni-bremen.de/transjudfare/.

Autor

Dr. Benjamin Werner ist Politikwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen zu den Auswirkungen europäischer Vorgaben auf nationale Wirtschafts- und Sozialstaatsordnungen. Derzeit beschäftigt er sich insbesondere mit den Konsequenzen des europäischen Freizügigkeitssystems für die mitgliedstaatlichen Sozialsysteme.

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