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Peter Becker, 08.04.2019: Der EU-Haushalt als Instrument der Investitionslenkung

In den Haushaltsverhandlungen steht ein Paradigmenwechsel an: Statt auf Kohäsion, Konvergenz und Solidarität zwischen den Regionen soll die europäische Kohäsionspolitik auf die Umsetzung des Europäischen Semesters ausgerichtet werden.

In den Haushaltsverhandlungen steht ein Paradigmenwechsel an: Statt auf Kohäsion, Konvergenz und Solidarität zwischen den Regionen soll die europäische Kohäsionspolitik auf die Umsetzung des Europäischen Semesters ausgerichtet werden.

Das EU-Budget ist anders als übliche nationale oder regionale Haushalte; es unterscheidet sich in seinem Volumen, seiner Finanzierung, den Ausgabenprioritäten und seiner Struktur sowie in seinen Instrumenten und dem Entscheidungsprozess. Im Zentrum der europäischen Budgetpolitik steht das Instrument des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), mit dem das Volumen der EU-Haushaltsmittel und die politischen Prioritäten der europäischen Ausgaben für 7 Jahre verbindlich festgelegt werden. Weil dieser MFR im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs nur einstimmig verabschiedet werden kann, kann er auch nur einstimmig verändert oder an neue Herausforderungen oder Bedingungen angepasst werden. Der MFR hat also eine immens hohe politische und rechtliche Bindungswirkung und ordnet derzeit zwischen 70 und 80 Prozent des Gesamtvolumens den zuvor bestimmten politischen Prioritäten für mehrere Jahre zu. Dieses System hat den Vorteil, dass die Ausgabenprogramme, die zur Verfügung stehenden Summen und deren Verteilung auf die Mitgliedstaaten und an potentielle Empfänger zu Beginn der MFR-Laufzeit verbindlich festgeschrieben werden. Das garantiert Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit und Planbarkeit. Dieser Vorteil ist jedoch zugleich ein großer Nachteil. Dass die Ausgabenprogramme und ihre Finanzausstattung über eine lange Periode verbindlich festgeschrieben werden, bedeutet eben auch, dass der europäische Haushalt kaum flexibel ist. Es ist beinahe unmöglich, den MFR an neue Herausforderungen oder an ein verändertes politisches Umfeld anzupassen. Die Festlegung der Ausgabenprioritäten erfolgt heute weitgehend unabhängig von sich verändernden politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen in der EU und häufig auch von den Erwartungen an die EU. Diese verbindliche Prä-Allokation der Budgetmittel bedeutet für den Haushalt, dass er andere Aufgaben leisten und Funktionen übernehmen muss und soll, als nationale Haushalte. Das EU-Budget ist vornehmlich ein mittel- bis langfristig fokussierter Investitionshaushalt; er ist sicherlich kein flexibler und auf ökonomische, beschäftigungspolitische und soziale Veränderungen reagierender und „atmender“ Haushalt.

Mit der Vorlage ihrer Vorschläge für den nächsten MFR der EU für die Jahre 2021-2027 und den dazugehörenden Basisrechtsakten für die großen, mehrjährigen Ausgabenprogramme hat die Europäische Kommission im Mai/Juni 2018 diesen großen und bedeutenden Verhandlungsprozess in der EU gestartet. Weil der MFR also ein mittel- bis langfristig ausgerichteter Investitionshaushalt ist, dessen Prioritäten nur schwer zu verändern sind, werden in diesen Verhandlungen mit der Konkretisierung der Ausgabenprogramme und der Festlegung der Finanzausstattung zugleich auch die Investitionsprioritäten, die Ziele und die Konditionen der künftigen EU-Förderung definiert.

Wichtige Instrumente für diese Fokussierung auf Investitionen sind zweifellos die Kohäsionspolitik und die Strukturfonds. Diese Politik entwickelte sich seit ihrer sogenannten „Lissabonisierung“ 2006, also mit der Ausrichtung der Förderprioritäten und -ziele auf die Lissabon-Strategie der EU für mehr Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit, zum „wichtigsten investitionspolitischen Instrument der EU“, so die Europäische Kommission. Zum Teil wird davon gesprochen, dass die Politik einen "Paradigmenwechsel“ von einer vornehmlich auf Transfers und deren Absorption orientierten Politik zu einer wachstumsorientierten, ergebnisorientierten Investitionspolitik erlebt habe, so der frühere Generaldirektor für Regionalpolitik in der EU-Kommission Walter Deffaa.1

Die Kommission hat nun vorgeschlagen, dass diese Politik mit rund 330 Mrd. EUR oder einem Anteil von 28,5 Prozent am Gesamtbudget auch im künftigen MFR 2021-2027 den Schwerpunkt der europäischen Investitionsförderung bilden soll. Damit bleibt die Kohäsionspolitik der größte Investitionsförderblock des EU-Budgets, auch wenn die Finanzausstattung der Strukturfonds insgesamt wegen des Brexits um rund 7 Prozent leicht reduziert werden soll. Bezogen auf einzelne Mitgliedstaaten oder Regionen könnten die Einschnitte in die Förderprogramme allerdings deutlich höher ausfallen.2 Und weil die Strukturfonds zum Instrument einer allgemeinen Investitionsförderung in der EU geworden sind, werden auch weiterhin alle Regionen in der EU gefördert, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Dennoch soll auch künftig ein großer Teil der europäischen Fördergelder an Regionen in reichen Mitgliedstaaten ausgereicht werden.

Angesichts der insgesamt geringeren zur Verfügung stehenden Fördermittel bei einem zugleich ausgeweiteten Kreis der Anspruchsberechtigten und potentiell nicht geringeren Förderbedarfen wird es deshalb bei den MFR-Verhandlungen auch darum gehen, die europäische Kohäsionspolitik insgesamt effizienter zu gestalten, um mit weniger Geld einen möglichst großen europäischen Mehrwert zu erzielen, zusätzliches Wachstum zu generieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Kommission schlägt deshalb Anpassungen zur Stärkung der thematischen Konzentration und den Ausbau der Konditionalitäten in der europäischen Förderpolitik vor. Die Investitionsprioritäten der Kohäsionspolitik sollen sich künftig auf fünf Politikziele konzentrieren, die die Kommission mit schönen Begriffen belegt - „ein intelligenteres Europa“ zur Förderung von Innovation, Digitalisierung, wirtschaftlichen Wandel sowie die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, „ein grüneres, CO2-freies Europa“ mit den Förderschwerpunkten Energiewende, erneuerbare Energien und Bekämpfung des Klimawandels, „ein stärker vernetztes Europa“ zur Förderung strategischer Verkehrs- und Digitalnetze, ein „sozialeres Europa“ mit der Förderung von Arbeitsplätzen, Bildung, Qualifizierung, sozialer Inklusion und medizinischer Versorgung sowie „ein bürgernäheres Europa“ zur Unterstützung lokaler Entwicklungsstrategien und einer nachhaltigen Stadtentwicklung.

Maßstab und Orientierung für diese Suche nach Effizienzgewinnen und Synergieeffekten in der europäischen Strukturfondsförderung sollen dabei das Europäische Semester zur wirtschaftspolitischen Koordinierung und insbesondere die länderspezifischen Empfehlungen sein. Die Kommission schlägt vor, für jeden Mitgliedstaat in diesen Empfehlungen wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Reformmaßnahmen zusammenzustellen, deren Umsetzung dann mit Hilfe der europäischen Strukturfonds gefördert werden soll. Das Europäische Semester 2019 sowie die diesjährigen Länderberichte und Empfehlungen wurden zu Testläufen der Kommission für diese neue Form der engen Verknüpfung von Kohäsionspolitik und wirtschaftspolitische Koordinierung. Ziel sei es, so die Kommission in ihrer Mitteilung3, eine größere Kohärenz zwischen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik und der Verwendung von Strukturfondsgeldern zu gewährleisten. In ihren jeweiligen Länderberichten konkretisiert die Kommission dann für jeden Mitgliedstaat die aus ihrer Sicht vorrangigen Bereiche für öffentliche und private Investitionen. Sie definiert so implizit die Prioritätensetzung für die Förderung mit EU-Strukturfonds.

Die nationalen Reform- und Förderprogramme in den Regionen und den Mitgliedstaaten, die mit EU-Strukturfonds finanziert werden, sollen künftig noch enger mit dem Instrumentarium des Europäischen Semesters, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und den Vorgaben des europäischen Ungleichgewichteverfahrens verkoppelt werden. Diese Verkopplung von wirtschaftspolitischer Koordinierung und Kohäsionspolitik soll formal an zwei Punkten erfolgen: bei der Erstellung der kohäsionspolitischen Förderprogramme zu Beginn des Förderzeitraums und bei der Halbzeitüberprüfung im Jahr 2025. Das Europäische Semester und die Reformempfehlungen der EU liefern die strategischen Zielvorgaben und die konkreten Ansatzpunkte für Maßnahmen der europäischen, nationalen und regionalen Förderpolitiken. Beispielsweise sollen die Förderziele der Strukturfonds in den fondsspezifischen Regelungen inhaltlich gewichtet und weiter konkretisiert werden, um eine kritische Finanzmasse für einzelne Förderprioritäten erreichen zu können. So sollen über den europäischen Regionalfonds mindestens 60 Prozent der EU-Fördergelder für die Förderung von Innovation und Forschung sowie für die CO2-Reduktion verwendet werden. Es ist davon auszugehen, dass die Europäische Kommission dann im Zuge der Genehmigung der regionalen und nationalen Strukturfonds-Förderprogramme auf die angemessene Beachtung und Finanzierung der Ziele des Europäischen Semesters und der Reformvorgaben der länderspezifischen Empfehlungen achten wird. Die europäischen Strukturfonds werden zum Umsetzungsinstrument der wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Koordinierung in der EU. Eine ähnliche Verbindung mit den Zielvorgaben des Europäischen Semesters schlägt die Europäische Kommission auch für das neue Investitionsprogramm InvestEU sowie für die neuen Programme zur Investitionsförderung und Stabilisierung in der Eurozone vor, das Investitionsstabilisierungsprogramm und das Reformhilfeprogramm.

Die europäischen Förderpolitiken und Fonds werden also auf gemeinsame Ziele ausgerichtet, die die Mitgliedstaaten im Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters zuvor vereinbart haben. Damit werden sie zu einem Instrument der europäischen Investitionslenkung. Das über den EU-Haushalt und seine Förderinstrumente bereitgestellte Kapital wird in die Förderung von Maßnahmen gemeinschaftlicher Investitionsziele gelenkt. Nicht mehr die Kohäsion und die Konvergenz, wie es der Lissabonner Vertrag vorsieht, und damit auch nicht mehr die Solidarität zwischen den Regionen sind künftig die Ziele der europäischen Kohäsionspolitik sein, sondern die Lenkung der Strukturfonds in zuvor definierte Investitionsprioritäten zur Steigerung von Wachstum, Beschäftigung sowie ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit.


Zum Weiterlesen:

(1) Walter Deffaa, The New Generation of Structural and Investment Funds – More than Financial Transfers?, in: Intereconomics, Volume 51, May/June 2016, Nr. 3, S. 155-163.

(2) Nach den Kalkulationen des Bundeswirtschaftsministeriums könnte der Vorschlag der Europäischen Kommission für Deutschland einen Rückgang der europäischen Fördergelder aus den Strukturfonds in Höhe von rund 20 Prozent bedeuten. Für die Višegrad-Staaten Polen, Ungarn und Tschechien wurde eine Minderung in Höhe von jeweils 24 Prozent errechnet.

(3) Europäische Kommission, Europäisches Semester 2019: Bewertung der Fortschritte bei den Strukturreformen, Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte und Ergebnisse der eingehenden Überprüfung gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011, COM(2019) 150 final, Brüssel, 27.2.2019.


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Autor

Dr. Peter Becker forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin zu den Themen EU-Haushalt und Finanzen sowie zu Fragen der europäischen Kohäsions-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.

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