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Toralf Pusch/Arne Heise, 30.01.2020: Erfolgsstory Mindestlohn: mehr Einkommen, mehr Konsum, kaum Beschäftigungsverluste

Eine positive Bilanz des gesetzlichen Mindestlohns war vor fünf Jahren für viele noch alles andere als sicher. Die negativen Vorhersagen haben sich nicht bewahrheitet.

In den letzten 10 Jahren seit dem Ende der Finanzkrise verzeichnet die Beschäftigung in Deutschland Jahr für Jahr höhere Stände. Zu diesem aufgehellten Bild am Arbeitsmarkt passt es, dass sich auch die Einkommensverhältnisse von Arbeitnehmer/innen zuletzt verbessert haben. So stiegen die Tarifverdienste im vergangenen Jahrzehnt deutlich und schöpften den Verteilungsspielraum wieder besser aus. Bei nicht tarifgebundenen Beschäftigten führte insbesondere der Mindestlohn zu stärkeren Stundenlohnsteigerungen. Überdurchschnittlich stark waren die durch den Mindestlohn ausgelösten Lohnsteigerungen vor allem unter den Arbeitnehmer/innen mit niedriger Qualifikation sowie in Ostdeutschland. Merkliche Beschäftigungsrückgänge sind kaum feststellbar. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass die Zustimmungswerte zum gesetzlichen Mindestlohn hoch sind und die Debatte um eine Erhöhung des Mindestlohns auf ein existenzsicherndes Niveau von 12 Euro (annähernd bei Vollzeit) derzeit Fahrt aufnimmt.

Dabei war eine positive Bilanz des gesetzlichen Mindestlohns vor fünf Jahren alles andere als sicher. Gegner warnten damals lautstark vor starken Beschäftigungsrückgängen. In Erinnerung bleiben hier vor allem die Beiträge von Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thum aus dem Umfeld des Ifo-Instituts sowie von einem Team rund um den damaligen Leiter des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) Klaus Zimmermann. Während Knabe, Schöb und Thum ein Problempotential von 425.000 bis 910.000 gefährdeten Arbeitsplätzen ausmachten, prognostizierte das IZA-Autorenkollektiv den Verlust von 570.000 Stellen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage warnte noch im Jahr 2014 eindringlich vor dem Mindestlohn, obwohl seine Prognose des Beschäftigungsverlusts mit etwa 140.000 Stellen im Vergleich zu den oben genannten Beiträgen eher moderat ausfiel. Andere Prognosen kamen teilweise (für einen Mindestlohn von 7,50 Euro!) zu noch drastischeren Ergebnissen.

Doch wie kann es sein, dass namhafte deutsche Wirtschaftswissenschaftler mit ihren Prognosen überwiegend derart falsch lagen? In einem jüngst erschienen Beitrag weisen Oliver Bruttel, Arne Baumann und Matthias Dütsch darauf hin, dass diese Warnungen vor dem gesetzlichen Mindestlohn auf einem neoklassischen Arbeitsmarktmodell mit vollkommener Konkurrenz fußten. Hinzu kam dann noch die (durchaus umstrittene) Annahme einer hohen Lohnelastizität der Beschäftigung, die in den Modellprognosen zu hohen Beschäftigungsverlusten führte. Alternative Modelle wurden kaum in Betracht gezogen. Zudem waren die Prognoseergebnisse nicht im Einklang mit der internationalen empirischen Forschung zur Beschäftigungswirkung von Mindestlöhnen. So genannte Metastudien, für die eine Vielzahl von Ergebnissen aus der empirischen Literatur ausgewertet wurden, kamen zum Ergebnis nur unerheblicher oder sogar insignifikanter Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen.

Ein in der empirischen Literatur bisher wenig beachteter Effekt von Mindestlöhnen sind dessen Auswirkungen auf die Güternachfrage der Volkswirtschaft. Speziell für Deutschland wurden diese Nachfrageeffekte des Mindestlohns von Arne Heise (Uni Hamburg) und Toralf Pusch (WSI) in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag untersucht. Nachfragesteigerungen können beispielsweise dann entstehen, wenn Niedrigverdiener im Zuge einer Einkommenserhöhung durch den Mindestlohn den Großteil des zusätzlichen Einkommens konsumieren, was den Güterabsatz betroffener und auch nicht betroffener Unternehmen erhöht. Zwar wurden durch den Mindestlohn auch Preissteigerungen ausgelöst. Diese wirkten Steigerungen der Güternachfrage durch einen höheren Konsum von Mindestlohn-Beschäftigten teilweise entgegen. In der Summe heben sich diese Effekte nach Heise und Pusch aber gegenseitig fast auf, sodass die Beschäftigung insgesamt nur marginal um ca. 27.000 Arbeitsplätze gesunken ist.

Heise und Pusch weisen darauf hin, dass Effekte des Mindestlohns auf die Güternachfrage bisher in der empirischen Forschung überwiegend ausgeblendet wurden. Dies liegt daran, dass die Mehrzahl der Studien den Blick vor allem auf die betroffenen Arbeitnehmer/innen, Regionen bzw. Betriebe richtet. Diese mikroökonomische Vorgehensweise kann tendenziell nicht die auch an anderer Stelle auftretenden Effekte erfassen. Dies soll natürlich nicht bedeuten, dass die Anpassungen für besonders betroffene Beschäftigte und Branchen uninteressant wären, denn hier liegt der Ausgangspunkt der durch den Mindestlohn ausgelösten Änderungen. Tabelle 1 wirft einen Blick auf die Entwicklung einiger Kennzahlen in vom Mindestlohn stark beeinflussten Branchen im Vergleich zur Gesamtwirtschaft vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.

In Tabelle 1 wurde neben dem Arbeitnehmer-Anteil mit Stundenverdienst bis zum Mindestlohn bewusst die Steigerung der Bruttowertschöpfung dargestellt, da diese als Produktionswert spiegelbildlich auch die daraus resultierenden Einkommen der Arbeitnehmer/innen und der Kapitaleigner umfasst. Unter Anderem könnten beispielsweise Selbständige aufgrund höherer Löhne ihrer Angestellten Einkommenseinbußen verzeichnen, was sich dämpfend auf die Steigerung der Bruttowertschöpfung auswirken würde. Die Daten in Tabelle 1 deuten allerdings in eine andere Richtung. In den ersten 3 Jahren nach Einführung des Mindestlohns stieg die Bruttowertschöpfung in den hier dargestellten Niedriglohnbranchen deutlich stärker als die Bruttowertschöpfung der Gesamtwirtschaft. Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns lagen die Steigerungen der Bruttowertschöpfung hingegen in etwa bei den gesamtwirtschaftlichen Steigerungen. Offenbar ist es den Unternehmen in stark vom Mindestlohn beeinflussten Branchen gelungen, höhere Einnahmen zu erzielen bzw. höhere Kosten durch höhere Preise weiterzugeben.

Es ist durchaus plausibel, dass sich die gestiegene Bruttowertschöpfung in typischen Niedriglohnbranchen aus beiden oben angesprochenen Effekten speist. So stiegen die durchschnittlichen Einkommen von Arbeitnehmer/innen in den Niedriglohnbranchen von Tabelle 1 im Zeitraum 2014 bis 2017 mit durchschnittlich 10 Prozent deutlich stärker als die der Arbeitnehmer/innen aller Branchen (+6,6 Prozent). Auf den Preiseffekt deutet hin, dass die Konsumentenpreisindizes in den Niedriglohnbranchen nach der Mindestlohneinführung deutlich stärker stiegen als die allgemeine Preissteigerungsrate. Nach Oliver Bruttel, Arne Baumann und Matthias Dütsch stieg „der Gesamtpreisindex zwischen den Jahren 2014 und 2016 um insgesamt 0,8 Prozent ... Im gleichen Zeitraum lag der Preisanstieg für Taxifahrten bei bundesdurchschnittlich 15,2 Prozent, für Zeitungen und Zeitschriften bei 10,1 Prozent, für Post- und Kurierdienstleistungen bei 7,0 Prozent und für Dienstleistungen in Restaurants, Cafés usw. bei 5,0 Prozent.“ Alle genannten Branchen sind durch einen hohen Anteil niedriger Löhne gekennzeichnet.

Wie stark die Güternachfrage dabei auf Preissteigerungen reagiert, wird von der so genannten Preiselastizität der Nachfrage gemessen. Ist die Preiselastizität gering, führt eine Preissteigerung nur zu geringen Nachfrageausfällen. Für Güter der durch den gesetzlichen Mindestlohn stark beeinflussten Branchen berechnen Arne Heise und Toralf Pusch mit Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe allerdings eine sehr geringe Preiselastizität von deutlich unter 1, was mit zu den sehr geringen Beschäftigungseffekten des Mindestlohns beigetragen hat. In vielen Fällen reagierten Konsumenten nur vergleichsweise wenig auf die durch den Mindestlohn ausgelösten Änderungen der Preise. Bei den in ihrer Produktion vergleichsweise hoch vom Mindestlohn betroffenen Nahrungsmitteln, die einen nicht unbedeutenden Ausgabenanteil der Haushalte stellen, leuchtet dies unmittelbar ein, da die Erfüllung von Grundbedürfnissen vergleichsweise wenig durch Preise beeinflusst sein dürfte.

Summa summarum ist der gesetzliche Mindestlohn daher eine Erfolgsstory. Einem kaum merklichen Beschäftigungseffekt stehen deutliche Steigerungen von Niedriglohnbezieher/innen gegenüber. Die relativen Preissteigerungen einer Reihe der im Niedriglohnsektor hergestellter Güter scheinen angesichts einer vergleichswiese moderaten allgemeinen Preissteigerungsrate verkraftbar. Grundsätzlich spricht vor diesem Hintergrund einiges dafür, den Spielraum für eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns in Richtung eines Stundenlohns von mindestens 12 Euro stärker auszunutzen.

Zum Weiterlesen: Arne Heise, Toralf Pusch (2019): Introducing minimum wages in Germany employment effects in a post Keynesian perspective. Journal of Evolutionary Economics https://doi.org/10.1007/s00191-019-00652-9

 

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Autoren

Dr. Toralf Pusch ist Leiter des Referats Arbeitsmarktanalyse am WSI in der Hans-Böckler-Stiftung. Er forscht zu Qualität der Beschäftigung, Auswirkungen des Mindestlohns und zu Erwerbsverbleib.

Professor Dr. Arne Heise lehrt Finanzwissenschaft und Public Governance an der Universität Hamburg im Fachbereich Sozialökonomie. Seine Schwerpunkte sind Makroökonomie, Wirtschaftspolitik, Europäische Integration und Finanzwissenschaft.

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