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Florian Blank, 18.05.2020: Sozialpolitik in der Corona-Krise

Kürzung von Sozialleistungen aufgrund der Corona-Krise? Ein Blick auf die Erfahrungen aus dem Jahr 2009 zeigt: Das wäre der falsche Ansatz! Der Sozialstaat ist Teil der Lösung, nicht Teil des Problems.

Sozialpolitik sichert Menschen gegen Einkommensausfall und andere soziale Risiken. Sie ermöglicht den Zugang zu Dienstleistungen im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Beschäftigte können im Falle eines Verdienstausfalls auf die Sozialversicherung zurückgreifen, die Systeme der Grundsicherung unterstützen die Ärmsten in der Gesellschaft. In einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise zeigt sich der Wert der öffentlichen sozialen Sicherung. Wird die Corona-Krise zu einer erneuten, stärkeren Wertschätzung der Sozialpolitik beitragen? Werden aus den Krisen-Erfahrungen Schlüsse gezogen, wie Sozialpolitik umfassender, solidarischer, besser gestaltet werden kann? Oder wird die immer wieder neu aufgelegte Legende von der Unbezahlbarkeit zu neuen Kürzungsrunden führen?

Das Ende der Corona-Krise ist heute noch nicht absehbar. Die Regierung hat Maßnahmen beschlossen, die darauf abzielen, die materielle Not in der Bevölkerung zu lindern und Erwerbsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Diesen Zwecken sollen die Verbesserungen beim Kurzarbeitergeld – das teils durch tarifliche Regelungen flankiert wird –, die Verlängerung der Bezugszeit beim Arbeitslosengeld I, der erleichterte Zugang zur Grundsicherung und zum Kinderzuschlag und Hilfen bei Verdienstausfällen bei Kita- und Schulschließungen dienen. Die Rolle der Sozialpolitik bei der Bewältigung einer Krise beschränkt sich aber bei weitem nicht auf diese neuen Maßnahmen. Die bestehenden Sicherungssysteme leisten einen wichtigen Beitrag, selbst wenn sie nicht durch neue Regelungen angepasst werden. Ein Blick auf die letzte Krise hilft, die Rolle des Sozialstaats in der Krisenbewältigung richtig einzuschätzen.

Ein Blick zurück

Die jetzige Krise unterscheidet sich stark von der Krise 2009, die durch wirtschaftliche Fehlentwicklungen und sie ermöglichende politische Rahmenbedingungen verursacht wurde. Ein Blick zurück lohnt dennoch, da bestimmte Zusammenhänge auch heute wieder aktuell sind. 2009 kam es zu einem Einbruch des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von 5,7 Prozent. Zugleich kam es zu einem deutlichen Anstieg der Sozialabgaben, insbesondere der Ausgaben der Arbeitslosenversicherung. Die Folge war ein deutlicher Anstieg der Sozialleistungsquote, die in den Folgejahren wieder sank.

In der Krise hatte die Sozialpolitik drei Funktionen:

  • Grundsätzlich sicherten Leistungen der Sozialversicherung und der Grundsicherung sowie familienpolitische Leistungen Menschen ab, gaben Stabilität und materiellen Rückhalt. Das Kurzarbeitergeld trug zur Sicherung von Beschäftigungsverhältnissen bei. Mit der „Rentengarantie“ wurde verhindert, dass es zu nominellen Rentenkürzungen kam, die nach vorheriger Rechtslage durch sinkende Löhne aufgrund des massiven Bezugs von Kurzarbeit hätten folgen müssen.
  • In der Krankenversicherung wurde im Zuge des „Konjunkturpakets II“ der paritätisch getragene Beitragssatz um 0,6 Punkte gesenkt, um so den „Faktor Arbeit“ billiger zu machen. Im Gegenzug wurde der Steuerzuschuss zur GKV angehoben.
  • Die Verstetigung von Einkommen durch (ungekürzte) Sozialleistungen hatte volkswirtschaftliche Rückwirkungen, insofern als der private Konsum stabilisiert wurde – mit positiven Effekten auf die Wirtschaftsentwicklung. Sozialpolitik wirkte damit als automatischer Stabilisator in der Krise.

Die aktuelle Krise

In der aktuellen Krise prognostizieren Wirtschaftsforschungsinstitute einen Rückgang des BIP zwischen 2,8 und 8,4 Prozent (real) (siehe dazu auch die Gutachten von Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, IMK, SVR Wirtschaft und IAB). Das Arbeitsvolumen sinkt, die staatlich geförderte Kurzarbeit trägt aber auch in dieser Krise dazu bei, dass Beschäftigungsverhältnisse aufrechterhalten werden. Selbst wenn die kurzfristige Entwicklung ungewiss ist, erscheint es als plausibel, dass die sozialen Sicherungssysteme in dieser Krise dieselben Funktionen erfüllen wie 2009: Sie sichern Menschen materiell, geben Halt und sie ermöglichen den Zugang zu Dienstleistungen im Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Sie sind ein flexibles Instrument der Krisenbewältigung und erfüllen eine Rolle als automatischer Stabilisator in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung profitieren in einer relativ kurzen Krise davon, dass von Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld I Beiträge bezahlt werden, so dass sich Einnahmenverluste in diesen Systemen zunächst in Grenzen halten und für einige Zeit verkraften lassen. Und schließlich sichert Sozialpolitik selber Arbeitsplätze, da ein erheblicher Teil der beschäftigungsintensiven öffentlichen Daseinsfürsorge durch die Sozialversicherung und Gebietskörperschaften finanziert werden: unter anderem in Pflegediensten, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen. Wie schon in der letzten Krise flankieren tarifliche Regelungen das staatliche Kurzarbeitergeld.

Warum überhaupt ist es notwendig an die positive Rolle der Sozialpolitik in der Bewältigung der Krise(nfolgen) zu erinnern? Weil die Bearbeitung der Krise Kosten verursacht und mit Sicherheit Forderungen laut werden, dass diesen Ausgaben Einsparungen an anderer Stelle gegenüber stehen sollen. Schon jetzt wird (wieder) gefragt, ob die Grundrente denn kommen solle, und wird mit Blick auf die kommende Rentenerhöhung (die ja letztlich nur die Lohnentwicklung in die Renten überträgt) eine Kürzung gefordert. Solche Forderungen negieren die Rolle, die stabile und steigende Sozialeinkommen für die wirtschaftliche Entwicklung haben, völlig. Anstatt ein weiteres Mal über die Kosten sozialer Sicherung zu klagen, sollte die Anerkennung, die Angehörige sozialer und anderer Berufe und in der Krise erfahren (und die sich hoffentlich auch in angemessener Entlohnung niederschlagen wird) sowie die Einsicht, dass eine Gesellschaft bestimmte Infrastrukturen vorhalten und schützen muss, auch auf das System der sozialen Sicherung insgesamt übertragen werden. Sozialpolitik ist Teil der Lösung – nicht Teil des Problems!

Was liegt an?

Auf der Agenda steht also die solidarische Weiterentwicklung der sozialen Sicherung:

  • Menschen, die in den sozialen Dienstleistungen arbeiten, sollen nicht nur Wertschätzung erfahren, sondern auch materielle Anerkennung und gute Arbeitsbedingungen. Die Krise zeigt, dass Gesellschaften ihre soziale Sicherung und öffentlichen Dienstleistungen nicht auf Kante nähen dürfen. Sicher kann nicht jede für jede Eventualität vorgesorgt werden. Aber ein auf Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz ausgerichtetes System kann kaum „unrentable“ Notfallkapazitäten vorhalten. Und die Krise zeigt auch: Hinter technischen Begriffen wie „kritische Infrastruktur“ stehen Menschen, die arbeiten.
  • Die soziale Sicherung muss solidarisch finanziert werden. Es muss verhindert werden, dass die Kosten der Krise den Systemen der sozialen Sicherung aufgebürdet werden oder verschiedene Bereiche der Sozialpolitik miteinander verrechnet werden. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern muss grundsätzlich sichergestellt werden, dass während und nach der Krise fiskalische Spielräume erhalten bleiben, um die soziale Sicherung der Bevölkerung zu garantieren. Leistungskürzungen unterminieren das Vertrauen in den Sozialstaat und schwächen die Rolle des Sozialstaats in der nächsten Krise. Denn auch das ist eine Einsicht aus den vergangenen zehn Jahren: Gesellschaften müssen mit solchen Krisen rechnen.
  • Die Problematik der Selbständigen in der gegenwärtigen Krise zeigt: Die Zweige der Sozialversicherung müssen schrittweise alle Erwerbstätigen einbeziehen. Die Vorschläge für Erwerbstätigenversicherung, Bürgerversicherung, Arbeitsversicherung liegen seit langem auf dem Tisch. Es ist Zeit, sie umzusetzen.
  • Im Falle des Kurzarbeitergeldes wird deutlich, dass die öffentlichen Leistungen mit bisher 60 bzw. 67 Prozent des entgangenen Nettoentgelts in Deutschland verglichen mit anderen europäischen Ländern nicht gerade großzügig sind. Daran ändern auch die Leistungsverbesserungen im Sozialschutzpaket II wenig. Zugleich können angesichts der abnehmenden Tarifbindung bei weitem nicht alle Beschäftigten auf aufstockende tarifliche Leistungen zurückgreifen – nach Schätzungen des WSI-Tarifarchives ist nur knapp die Hälfte aller Tarifbeschäftigten und höchstens ein Viertel aller Beschäftigten durch Tarifverträge abgesichert, die Aufstockungen des Kurzarbeitergeldes vorsehen. Entsprechend sollte grundsätzlich über die Ausgestaltung des öffentlichen Kurzarbeitergeldes nachgedacht werden.

Lesehinweis zur Rentenversicherung in der Corona-Krise: Florian Blank (2020): Die Rentenversicherung: Teil der Lösung, in: Soziale Sicherheit 5/2020, S. 174/175.

 

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Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa. 

Kontakt: florian-blank (at) boeckler.de

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