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WSI Direktorin Bettina Kohlrausch

Bettina Kohlrausch, 19.10.2023: Interview

Wie sieht die Relation von Mindestlohn und Bürgergeld aus? Das WSI hat den Lohnabstand für verschiedene Haushaltskonstellationen nachgerechnet.

„Es schadet allen, wenn Bürgergeldempfänger*innen gegen Mindestlohnbezieher*innen ausgespielt werden“

Ein Inflationsausgleich beim Bürgergeld und eine minimale Erhöhung des Mindestlohns haben zu einer Debatte rund um die Höhe von Sozialleistungen und die Anreize für Arbeit geführt. WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch spricht im Interview über aktuelle Zahlen aus dem WSI und Scheinargumente in der Debatte.

In den letzten Wochen hieß es oft zugespitzt: „Es lohnt sich bald nicht mehr zu arbeiten, weil das Bürgergeld zu hoch ist“. Stimmt das eigentlich?

Nein, das haben wir im WSI nachgerechnet. Beschäftigte, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten, haben in unterschiedlichen Haushaltskonstellationen ein spürbar höheres Einkommen als Personen, die Bürgergeld beziehen. Das gilt auch 2024, wenn durch die von der Bundesregierung geplante Anhebung des Bürgergelds nachträglich die Kaufkraftverluste ausgeglichen werden, die durch die sehr hohe Inflation entstanden sind, während der Mindestlohn nur geringfügig steigt.

Wie sehen die Zahlen denn genau aus?

Alleinstehende, die in Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten, haben im kommenden Jahr pro Monat ein um 532 Euro höheres Nettoeinkommen als alleinstehende Bezieher*innen von Bürgergeld. Eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern, in der ein Elternteil zum Mindestlohn arbeitet und der zweite nicht erwerbstätig ist, hat netto zwischen 412 und 640 Euro mehr zur Verfügung als bei Bürgergeldbezug, je nach Alter der Kinder. Bei drei Kindern liegt der Einkommensvorteil zwischen 429 und 771 Euro.

Wie sind die Werte zustande gekommen?

Mein Kollege Eric Seils im WSI hat für verschiedene Haushaltskonstellationen und Altersstufen der Kinder berechnet, wie hoch das monatliche verfügbare Einkommen mit Erwerbsarbeit zum Mindestlohn gegenüber der Sicherung des Existenzminimums durch Bürgergeld ausfällt. Dazu hat er mit den aktuellsten Daten des Statistischen Bundesamts und der Bundesagentur für Arbeit zu monatlichen Arbeitszeiten und durchschnittlichen Kosten der Unterkunft im Bürgergeld kalkuliert. Einbezogen sind darüber hinaus alle Steuer- und Abgabenzahlungen sowie sämtliche Sozialleistungen, die Menschen in der jeweiligen Haushaltskonstellation erhalten, darunter etwa Wohngeld oder Kinderzuschläge für Haushalte mit zum Mindestlohn Beschäftigten.

Das klingt nach Rechnungen mit vielen Komponenten…

Ja, diese kurze Aufzählung macht vielleicht schon deutlich, dass das Thema sehr komplex ist. Hinzu kommt, dass man dann auch noch Fragen klären muss wie beispielsweise die, ob und wie bei Alleinerziehenden ein Unterhaltsvorschuss bei der Berechnung des Wohngeldes einbezogen wird. Unser Forscher hat immer wieder geprüft und gerechnet, und tatsächlich haben sich in diesem Prozess einige Zahlen noch geändert. By the way: Wenn es einem Sozialexperten so geht, kann man sich vorstellen, vor welchen Herausforderungen Menschen stehen, die solche Sozialleistungen beantragen müssen. Ich verstehe jetzt noch besser, warum Studien zu dem Ergebnis kommen, dass viele Betroffene nicht alles bekommen, was ihnen eigentlich zusteht. Und wie wichtig und sinnvoll es ist, wenn hier mit der Kindergrundsicherung vereinfacht wird.      

Anfang 2024 steigt der Mindestlohn deutlich schwächer als das Bürgergeld. Was bedeutet das für den Abstand zwischen Bürgergeld und Mindestlohn?

Diese Entwicklung beim Mindestlohn ist hoch problematisch, taugt aber nicht als Argument gegen das höhere Bürgergeld. Das Bürgergeld definiert das finanzielle Existenzminimum in Deutschland. Die Kaufkraft von Menschen, die damit auskommen müssen, hat durch die hohe Inflation der letzten Zeit gelitten. Aus Studien wissen wir, dass Haushalte mit geringen Einkommen bis vor kurzem sogar spürbar überdurchschnittliche Inflationsraten hatten, weil sie einen großen Anteil ihres Budgets etwa für Nahrungsmittel ausgeben, die seit Anfang 2022 starke Preistreiber sind.

Und war die Höhe bei den Anpassungen des Bürgergelds so nachvollziehbar?

Ja. Dass die Kaufkraftverluste beim Bürgergeld endlich ausgeglichen werden, ist nur logisch. Natürlich ist die Teuerung auch eine sehr große Belastung für Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten. Das Problem besteht aber darin, dass die Arbeitgeber für 2024 durchgesetzt haben, dass es beim Mindestlohn nur eine Mini-Erhöhung gibt, die die Preissteigerung nicht ansatzweise ausgleichen kann.

Gerade Personen mit geringem Einkommen klagen in der regelmäßigen Erwerbspersonenbefragung, die Sie auswerten, über hohe finanzielle Belastungen.

Tatsächlich haben wir im Juli für Personen mit einem Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen von unter 2500 Euro einen neuen Höchststand bei den finanziellen Belastungen gemessen, während diese Belastungen bei Personen mit höherem Einkommen zurückgegangen sind. Gleichzeitig sehen wir, dass Menschen mit hohen finanziellen Belastungen ein geringeres Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen und insbesondere die Bundesregierung haben. Diese „politische Entfremdung“ wiederum erhöht etwa die Bereitschaft, AfD zu wählen. Hohe finanzielle Belastungen der unteren Einkommensgruppen haben das Potenzial, die Gesellschaft als Ganzes zu  destabilisieren. Dazu passt, dass die Sorgen um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft einen neuen Höchststand erreicht haben.  Es schadet daher uns allen, wenn Bürgergeldempfänger*innen gegen Mindestlohnbezieher*innen ausgespielt werden.  Statt einer solchen Debatte brauchen wir einen höheren Mindestlohn und mehr Tarifbindung. Denn die ist der beste Schutz gegen Armutslöhne.

Download

Mindestlohn, Bürgergeld und Lohnabstand in verschiedenen Haushaltskonstellationen, 2024
Daten und Erläuterungen (xlsx)

Kontakt: Dr. Eric Seils, Leiter des Referats Vergleichende Sozialpolitik am WSI der Hans-Böckler-Stiftung

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