Quelle: WSI
Andreas Jansen, 29.11.2024: Nein! Die Rentenangleichung ist nicht für alle Menschen in Ostdeutschland von Vorteil
Endlich gleiche Renten in Ost und West!? Die Rentenangleichung sollte ein weiterer Schritt zu gleichen Einkommens- und Lebensverhältnissen sein. Doch im Osten bedeutet sie für viele eine Verringerung ihrer Anwartschaften und damit weniger Rente.
Mit Inkrafttreten des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes am 1. Juli 2018 wurde fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auch die Renteneinheit zwischen Ost- und Westdeutschland vollzogen. Ab dem 1. Januar 2025 sollten nach dem Willen des Gesetzgebers die Renten in Ost- und Westdeutschland nach einheitlichen Regeln berechnet werden. Damit wurde ein nahezu drei Jahrzehnte andauernder Angleichungsprozess auf politischem Wege beendet, der entsprechend seiner ursprünglichen Konstruktion erst mit Erreichen weitgehender Lohn- und Gehaltskonvergenz zwischen Ost- und Westdeutschland „automatisch“ sein Ende finden sollte. Die Vereinheitlichung des Rentenrechts erfolgte ungeachtet der Erkenntnis, dass es zum Zeitpunkt der Gesetzesinitiative noch nicht zu einer völligen Angleichung der Löhne und Gehälter in Ost- und Westdeutschland gekommen war. Insofern wurden bereits im Gesetzgebungsprozess Stimmen laut, die vor einer zu schnellen Angleichung des Rentenrechts warnten, da dies gegebenenfalls dazu führen könnte, dass sich ostdeutsche Arbeitnehmer*innen nach der Rentenangleichung in Hinblick auf ihre jährlich erworbenen Altersrentenanwartschaften schlechter stellen als bei Beibehaltung des Status quo (Jansen 2016, 2021; Schott 2017).
Nun werden die Altersrenten in Ost- und Westdeutschland bereits seit dem 1. Juli 2023, und damit ein Jahr früher als im Gesetzgebungsprozess intendiert, auf Basis des gleichen aktuellen Rentenwertes von 39,32 € berechnet. Vorgesehen ist hier nämlich eine vollständige Angleichung bis zum 1. Juli 2024 (Entwurf des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes). Möglich wurde dies dadurch, dass die Löhne und Gehälter in Ostdeutschland in den Vorjahren nicht nur stärker als in Westdeutschland, sondern auch stärker als prognostiziert gestiegen sind. Hatten die Unkenrufer somit unrecht und die im Rahmen des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes beschlossene künstliche Vereinheitlichung des Rentenrechts ist doch die erhoffte Erfolgsstory?
Zentrale rentenrechtliche Begriffe
Aktueller Rentenwert: Der aktuelle Rentenwert ist der Betrag, der einer ungeminderten monatlichen Rente aus Beiträgen eines Durchschnittverdieners für ein Jahr entspricht. Die Bundesregierung legt ihn mit Zustimmung des Bundesrats jeweils zum 1. Juli eines Jahres fest. Dadurch wird die Rente an die Veränderung der Löhne und Gehälter angepasst. Seit dem 1. Juli 2024 beträgt der aktuelle Rentenwert in Ost- und Westdeutschland 39,32 €.
Entgeltpunkte: Entgeltpunkte bilden die Anwartschaften aus den individuellen rentenrechtlichen Zeiten ab. Für Entgeltpunkte aus Beitragszeiten wird das jährlich erzielte Entgelt durch das Durchschnittsentgelt im gleichen Jahr geteilt. Wer in einem Kalenderjahr genauso viel Entgelt erzielt hat wie der Durchschnitt aller Versicherten, erhält hierfür einen Entgeltpunkt. Wer weniger verdient hat, erhält entsprechend einen Entgeltpunktwert von unter 1,0, bei überdurchschnittlichem Verdienst beträgt der Entgeltpunktwert entsprechend mehr als 1,0.
Individuelle Rentenanwartschaft: Anwartschaften sind vor allem durch Beitragszahlungen erworbene Werte in Form von sogenannten Entgeltpunkten, die zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung zum Rentenanspruch werden. Die Höhe der erworbenen Rentenanwartschaft richtet sich vor allem nach der Höhe des versicherten Arbeitsentgelts.
Höhe der tatsächlichen Altersrente: Höhe der Altersrenten richtet sich wiederum nach der Höhe der im Laufe der individuellen Erwerbsbiografie erworbenen Rentenanwartschaften. Dies bedeutet: Je länger die Beitragsdauer (Anzahl der Rentenanwartschaften) und je höher das versicherte Arbeitsentgelt (Höhe der Rentenanwartschaft), desto höher fällt auch die individuelle Altersrente aus.
Eine Erfolgsstory wider Erwarten?
Nun, zumindest politisch wurde die vorzeitige Angleichung des aktuellen Rentenwertes in diese Richtung interpretiert. Einzig aus der Partei „Die Linke“ wurden Stimmen laut, die darauf hinwiesen, dass die Rentenangleichung trotz vorzeitiger Angleichung eines Parameters nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer produziere. Olaf Scholz nannte es demgegenüber in seinem Podcast „Kanzler kompakt“ einen „historischen Schritt“, dass in Ost- und Westdeutschland nun ein „gleich hoher aktueller Rentenwert“ gelten würde, und bezeichnete die vorzeitige Vereinheitlichung als einen „Erfolg“, der auch auf die Einführung und kontinuierliche Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns sowie auf die Wirtschaftsförderungspolitik der Bundes- und Landesregierungen zurückzuführen sei. In ähnlicher Weise bewertete der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, die vorzeitige Angleichung der aktuellen Rentenwerte. Die entsprechende Meldung auf der Internetseite ist bis heute überschrieben mit dem Satz: „Endlich gleiche Renten in Ost- und Westdeutschland!“.
Mit dem Rentenrecht vertraute Leser*innen werden den Fehlschluss bereits bemerkt haben, der in dieser kurzen Überschrift gezogen wird, nämlich, dass ein einheitlicher Rentenwert auch zu gleichen Altersrentenanwartschaften führt. Dies stimmt nicht: Ein einheitlicher aktueller Rentenwert bedeutet nämlich noch lange nicht einheitliche Altersrentenanwartschaften, geschweige denn einheitliche Altersrenten in Ost- und Westdeutschland, denn für die Höhe der pro Kalenderjahr erwirtschafteten individuellen Altersrentenanwartschaften ist neben dem aktuellen Rentenwert auch die Anzahl der Entgeltpunkte von Bedeutung. Diese spiegeln die relative Position des individuellen sozialversicherungspflichtigen Erwerbseinkommens in der bundesdeutschen Einkommenshierarchie wider (siehe dazu auch die Ausführungen in der Infobox).
Um es plastisch zu machen: Das eigene sozialversicherungspflichtige Erwerbseinkommen wird zur Bestimmung der in einem bestimmten Kalenderjahr erreichten Entgeltpunkte durch ein (fiktives) Durchschnittsentgelt dividiert, das der Anlage 1 im SGB VI zu entnehmen ist. Das Ergebnis ist ein Wert, der, aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen (2024: 89.400 € in Ost- und 90.600 € in Westdeutschland) in der gesetzlichen Rentenversicherung, zwischen 0 und ca. 2,1 liegt. Dieser Wert entspricht der Anzahl an Entgeltpunkten für das jeweilige Kalenderjahr. Über das Konstrukt der Entgeltpunkte wird das für die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland charakteristische Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und (Renten)Leistung realisiert: je höher das sozialversicherungspflichtige Erwerbseinkommen, desto höher der prozentual von diesem Erwerbseinkommen erhobene Rentenversicherungsbeitrag und desto höher die Zahl der im jeweiligen Kalenderjahr realisierten Entgeltpunkte. Der aktuelle Rentenwert definiert demgegenüber den Wert eines Entgeltpunktes, ist also völlig losgelöst von bestehenden Lohn- und Gehaltsunterschieden zu betrachten. Die in einem Jahr erwirtschaftete Rentenanwartschaft ist somit das Produkt aus den im jeweiligen Kalenderjahr gesammelten Entgeltpunkten und dem aktuellen Rentenwert.
Von gleichen Altersrentenanwartschaften zwischen Ost- und Westdeutschland kann somit nur dann ausgegangen werden, wenn ostdeutsche Arbeitnehmer*innen in etwa gleich hohe Löhne und Gehälter erhalten, wie statistisch ähnliche Beschäftigte in Westdeutschland – denn nur in diesem Fall würde der in Ost- und Westdeutschland gleiche aktuelle Rentenwert mit der (nahezu) identischen Zahl an Entgeltpunkten multipliziert.
Der aktuelle Rentenwert sagt somit nichts darüber aus, ob Arbeitnehmer*innen in Ost- und Westdeutschland für vergleichbare Tätigkeiten auch ein ähnliches Arbeitsentgelt erhalten. Diese häufig unterstelle Kopplung hat es auch niemals gegeben. Vielmehr sollte zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung mit Einführung des aktuellen Rentenwertes (Ost) erreicht werden, dass das Verhältnis von Renten und Löhnen in Ostdeutschland (also die Relation zwischen ostdeutschen Beitragszahler*innen und Rentenempfänger*innen zu einem gegebenen Zeitpunkt) dem der alten Bundesländer entspricht (Deutscher Bundestag 1991: Drucksache 12/405). Im Falle einer 1:1-Übertragung des damals in Westdeutschland geltenden aktuellen Rentenwertes auf Ostdeutschland wäre nämlich der Aufholprozess bei den ostdeutschen Renten schneller vollzogen worden als bei den Löhnen und Gehältern (Hoenig 2013).
Das Problem: Weiterhin bestehende Lohn- und Gehaltsunterschiede schlagen zukünftig voll auf die Rentenanwartschaften durch
Die Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind demgegenüber über einen zweiten wichtigen Parameter der unterschiedlichen Rentenberechnung zwischen Ost- und Westdeutschland abgebildet worden. Konkret wurden im Rahmen der Rentenüberleitung Anfang der 1990er Jahre sogenannte Entgeltpunkte (Ost) eingeführt, die bis heute Gültigkeit besitzen. Diese werden ermittelt, indem die in Ostdeutschland erzielten Arbeitsentgelte zunächst mit einem gesetzlich festgelegten Umrechnungsfaktor, der der durchschnittlichen Einkommensdifferenz zwischen Ost- und Westdeutschland im jeweiligen Referenzjahr entspricht, multipliziert und dann ins Verhältnis zum westdeutschen Durchschnittseinkommen des entsprechenden Jahres gesetzt werden. Vereinfacht ausgedrückt wurden durch die Umwertung in den neuen Ländern pro Euro Einkommen mehr Entgeltpunkte errechnet und damit implizit eine rentenrechtliche Gleichbehandlung von beruflichen Tätigkeiten angestrebt. Die Werte zur Umrechnung der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelte Ost sind Anlage 10 SGB 6 zu entnehmen. Im Gegensatz zu den aktuellen Rentenwerten weist der pauschale Umwertungsfaktor bis heute Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland aus, die im Rahmen der künstlichen Angleichung des Rentenrechts bis 2025 aber nivelliert werden (siehe dazu Seite 5 in der Broschüre der Deutschen Rentenversicherung). Das Problem ist: Sollten sich bis dahin die Löhne und Gehälter zwischen Ost- und Westdeutschland nicht in allen Branchen und nicht für alle Berufsgruppen vollständig angeglichen haben, könnte der Wegfall der pauschalen Umwertung dazu führen, dass die Arbeitnehmer*innen in den betroffenen Branchen bzw. Berufsgruppen Jahr für Jahr geringere Rentenanwartschaften aufbauen als westdeutsche Arbeitnehmer*innen, die einer vergleichbaren beruflichen Tätigkeit in derselben Branche nachgehen (siehe dazu auch die Rede von Sabine Zimmerman (Die Linke) zum Abschluss der Rentenüberleitung am 1. Juni 2017).
In der Konsequenz würden die Altersrenten durch die Rentenangleichung somit ungleicher werden. Statt zur Erfolgsstory könnte sich die Angleichung des Rentenrechts somit auch zum Drama für diejenigen ostdeutschen Arbeitnehmer*innen entwickeln, die in Branchen arbeiten, in denen es noch heute große Lohndifferenzen zwischen Ost und West gibt. Das Problem ist: Der pauschalen Umwertung nach Anlage 10 SGB 6 wurde und wird bis heute weder in der medialen noch in der politischen Debatte besondere Aufmerksamkeit geschenkt (mit Ausnahme der Partei „Die Linke“). Sie ist aber für das Ziel gleicher Einkommens- und Lebensverhältnisse in Ost und West von immenser Bedeutung, da die ostdeutschen Löhne und Gehälter dadurch in das westdeutsche Lohn- und Gehaltsgefüge „eingepreist“ werden, wodurch sichergestellt wird, dass sich persistente Lohn- und Gehaltsunterschiede nicht auf die Höhe der Altersrente auswirken und damit auch in der Rentenphase fortbestehen.
Politisches Paradox: Die Rentenangleichung entsprach den Forderungen in Ostdeutschland
Um zu verstehen, warum es trotz damals noch bestehender Lohn- und Gehaltsdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschland und der bereits erwähnten Warnungen aus der Wissenschaft zur Verabschiedung des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes kam, lohnt sich ein kurzer Rückblick auf die politische Debatte rund um die Vereinheitlichung des Rentenrechts. So wurde bereits seit Mitte der 2000er Jahre vor allem von politischen Akteuren aus Ostdeutschland immer wieder die Forderung laut, die aktuellen Rentenwerte zeitnah anzugleichen, um auf diese Weise gleiche Lebensleistungen mit einer identischen Rentenleistung zu honorieren. Paradox an dieser Forderung war, dass ausgehend von einem in der ostdeutschen Bevölkerung stark ausgeprägten Gefühl der Benachteiligung aufgrund des geringeren aktuellen Rentenwertes (Ost), ein Gerechtigkeitsdefizit bei der Rentenberechnung konstruiert wurde, das objektiv aufgrund der parallel geltenden Umwertung der ostdeutschen Arbeitsentgelte zumindest im Rentenrecht nie existierte. Das Gegenteil ist der Fall: Der geringere aktuelle Rentenwert (Ost) wurde durch die Umwertung der Einkommen überkompensiert, d.h. die ostdeutschen Arbeitnehmer*innen haben durch die pauschale Umwertung ihrer Löhne und Gehälter und die damit einhergehende Steigerung der realisierten Entgeltpunkte mehr gewonnen, als sie durch den geringeren aktuellen Rentenwert verloren haben.
Dessen ungeachtet hatte sich bis 2016 eine breite Koalition politischer Akteure auf Bundes- und Landesebene mit dem Ziel gebildet, die Unterschiede im Rentenrecht zeitnah zu nivellieren. In erster Linie begründet wurde die politische Vereinheitlichung des Rentenrechts mit Verweis auf die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur. Demnach würden die weiterhin beobachtbaren Differenzen im Lohn- und Gehaltsniveau in erster Linie Unterschiede in der Wirtschafts- und Tätigkeitsstruktur und damit Produktivitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland widerspiegeln, die auch zwischen westdeutschen Landesteilen existieren, so dass der Prozess der Lohn- und Gehaltsangleichung als abgeschlossen angesehen werden kann (Steffen 2015). Dieses Argument ist auch nicht von der Hand zu weisen. So ist mittlerweile in einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Studien gezeigt worden, dass sich ein Teil der Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland über Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur, bei der durchschnittlichen Betriebsgröße sowie in der Qualifikations- und Tätigkeitsstruktur erklären lassen.
Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite wird bei einem Vergleich tariflich regulierter und tariflich nicht regulierter Löhne und Gehälter deutlich. Dabei zeigt sich nämlich, dass im Bereich der tariflich regulierten Löhne und Gehälter die Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland in deutlich stärkerem Maße realisiert wurde, als dies bei nicht-tariflich regulierten Löhnen und Gehältern der Fall ist (Bispinck 2020, Jansen 2016). Insofern können die skizzierten strukturellen und qualifikatorischen Unterschiede bestehende Differenzen nicht vollständig erklären, da sich die aus diesen wirtschaftsstrukturellen und qualifikatorischen Unterschieden ergebenden Lohn- und Gehaltsdifferenzen auch in den tariflichen Arbeitsentgelten widerspiegeln müssten. Dies zeigen auch Studien, die den Einfluss der regionalen Zugehörigkeit auf die Löhne und Gehälter multivariat, d.h. unter Kontrolle der skizzierten wirtschaftsstrukturellen Faktoren untersuchen (Jansen 2016, 2017, 2021). Dass gleiche Arbeit in Ost- und Westdeutschland auch gleich entlohnt würde, lässt sich somit auch heute längst nicht behaupten. Ein genauer und differenzierter Blick ist also vonnöten, um eine Aussage dahingehend treffen zu können, ob die Angleichung des Rentenrechts schlussendlich als Erfolgsstory zu bewerten ist oder ob eher von einem Drama mit unbekanntem Ausgang gesprochen werden muss. Um die durch qualifikatorische und wirtschaftsstrukturelle Unterschiede erklärbaren Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bestmöglich zu nivellieren, werden dabei in der Tabelle unten nur statistisch ähnliche Arbeitnehmer*innen betrachtet (differenziert nach Branchen, in Vollzeit beschäftigt, differenziert nach Frauen und Männern, Bruttostundenentgelte). Zudem wird in der Tabelle nur das Anforderungsniveau 2 ausgewiesen, das Fachkräfte mit einer mindestens zweijährigen Berufsausbildung repräsentiert. Für mehr und noch stärker differenzierte Ergebnisse sei auf eine aktuelle Studie des Verfassers dieses Blogbeitrages verwiesen.
Auf Branchenebene zeigen sich zum Teil noch erhebliche Lohn- und Gehaltsunterschiede
In den Daten zeigt sich eine erhebliche Heterogenität zwischen den Wirtschaftszweigen, wobei die im Durchschnitt ausgezahlten Stundenentgelte im Verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland durchweg unter den entsprechenden Werten in Westdeutschland liegen. Dementsprechend kann der Prozess der Lohn- und Gehaltskonvergenz im Verarbeitenden Gewerbe als noch nicht erreicht angesehen werden. Dieser Befund gilt für Frauen und Männer. Die größten Differenzen zeigen sich im Maschinenbau. Ostdeutsche Frauen erreichen hier gerade einmal 73,8 Prozent des entsprechenden durchschnittlichen Arbeitsstundenentgelts von westdeutschen Frauen. Bei Männern liegt die entsprechende Ost/West-Relation bei 75,9 Prozent. Die geringsten Unterschiede im Verarbeitenden Gewerbe zeigen sich in der chemischen Industrie. Hier erreichen ostdeutsche Frauen 85,6 Prozent des entsprechenden westdeutschen Niveaus (Ostdeutsche Männer: 84,4 Prozent). Vergleicht man die Lohn- und Gehaltsdifferenzen im Verarbeitenden Gewerbe mit der Gesamtwirtschaft wird deutlich, dass die Lohn- und Gehaltsdifferenzen noch (deutlich) stärker ausgeprägt sind, als es bei Betrachtung der Gesamtwirtschaft zu vermuten wäre. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die Angleichung der Löhne und Gehälter im Dienstleistungssektor in deutlich stärkerem Maße fortgeschritten sein muss, da der Dienstleistungssektor schließlich den komplementären Teil zum Verarbeitenden Gewerbe darstellt. Die Tabelle zeigt, dass dies zutrifft. In den Bereichen öffentliche Verwaltung und Gesundheitswesen kann er bei Frauen sogar als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden. Hier erreichen ostdeutsche Frauen jeweils mindestens 90 Prozent des entsprechenden Lohn- und Gehaltsniveaus von westdeutschen Frauen. Bei Männern sind die Differenzen etwas größer, aber auch hier kann von einer weitgehenden Angleichung gesprochen werden. Zwar zeigen sich durch die Verwendung von durchschnittlichen Bruttostundenlöhnen noch deutlichere Differenzen. Berücksichtigt man jedoch, dass die Arbeitszeiten im ostdeutschen Gesundheitswesen (und vielen anderen Branchen) immer noch höher als in Westdeutschland sind, ergibt sich bei Betrachtung von Monats- oder Jahresentgelten, die für die Rentenberechnung relevant sind, ein weitgehend vergleichbares Lohn- und Gehaltsniveau. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung liegen die durchschnittlichen Bruttostundenentgelte von ostdeutschen Frauen sogar weitgehend über den entsprechenden Werten in Westdeutschland. Auch bei Männern sind hier die 100 Prozent annähernd erreicht. Gerade hier erscheint die im Rahmen des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes getätigte Annahme somit zutreffend. Der Prozess der Lohn- und Gehaltskonvergenz kann hier als abgeschlossen betrachtet werden.
Gewinner und Verlierer der Rentenangleichung
Zusammenfassend zeigen die Ausführungen zu den Lohn- und Gehaltsunterschieden zwischen ost- und westdeutschen Frauen und Männern das gesamte Dilemma bei der Frage nach einem gangbaren Weg zur politischen Angleichung des Rentenrechts zwischen Ost- und Westdeutschland auf. So lässt sich auf der einen Seite nicht mehr pauschal zeigen, dass statistisch vergleichbare Arbeitnehmer*innen in Ostdeutschland bei gleicher Tätigkeit weniger verdienen als vergleichbare westdeutsche Beschäftigte. Vielmehr gibt es mittlerweile viele, auch sehr beschäftigungsstarke, Wirtschaftszweige im Dienstleistungssektor, in denen der Prozess der Lohn- und Gehaltskonvergenz als abgeschlossen angesehen werden kann. Für diese Branchen bzw. die darin beschäftigten Arbeitnehmer*innen führt die Angleichung des Rentenrechts im Allgemeinen und der Wegfall der pauschalen Umwertung nach Anlage 10 SGB VI im Speziellen somit nicht zu einer Schlechterstellung gegenüber vergleichbaren Beschäftigten in Westdeutschland. Sie können entsprechend nicht als „Verlierer“ der Rentenangleichung bezeichnet werden. Gewinner sind sie aber streng genommen auch nicht, da durch den Wegfall der pauschalen Umrechnung ihrer in Ostdeutschland erworbenen Entgeltpunkte ihre Altersrentenanwartschaften geringer ausfallen als vor Inkrafttreten des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes, da die pauschale Umwertung wie skizziert den geringeren aktuellen Rentenwert überkompensiert hat. Auf der anderen Seite verbleiben vor allem im Verarbeitenden Gewerbe weiterhin deutliche Unterschiede im Lohn- und Gehaltsniveau zwischen Ost und West, die sich, wenn überhaupt, im Zeitverlauf nur sehr langsam auflösen werden. Damit sind auch die Rentenbeiträge im Schnitt niedriger. Diese Schieflage wurde bislang durch die pauschale Umwertung zumindest verringert. Mit Wegfall dieser Regelung erwerben die Beschäftigten niedrigere Rentenansprüche als bisher.
Insgesamt scheinen die Beschäftigten mehrheitlich nicht von der Rentenangleichung zu profitieren, da sie mit niedrigeren Altersrentenanwartschaften und, auf längere Sicht mit niedrigeren Altersrenten als vorher rechnen müssen. Das gilt umso stärker, je jünger die Beschäftigten sind bzw. je kürzer die Beschäftigten von der pauschalen Umrechnung profitiert haben. Aus dieser Grundlogik ergibt sich aber auch die Antwort auf die Frage nach den Gewinnern der politisch induzierten Rentenangleichung: Positiv ist die Reform für die ostdeutschen Rentner*innen sowie für ostdeutsche Beschäftigte, die kurz vor der Rente stehen, denn sie profitieren davon, dass ihre gesammelten und hochgewerteten Entgeltpunkte künftig zusätzlich mehr wert sind, sie also für jeden Rentenpunkt einen höheren Euro-Betrag erhalten als zuvor.
Jetzt hilft nur noch Eigeninitiative!
Was ist also zu tun, um dieses Dilemma aufzulösen? Der gesetzliche Mindestlohn hat sicherlich zu einer stärkeren Angleichung der Löhne und Gehälter im unteren Einkommensbereich beigetragen, löst aber nicht das Problem der sehr hohen Lohn- und Gehaltsdifferenzen in den höheren Anforderungsniveaus, insbesondere auf der Ebene der Facharbeiter*innen. Hier erscheint die gangbarste Möglichkeit darin zu bestehen, die Sozialpartner dabei zu unterstützen, eine effektive Regulierungsstruktur in Ostdeutschland aufzubauen. Mit dem Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes und vor allem mit der damit einhergehenden Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Flächentarifverträgen ist hier sicherlich ein erster sehr wichtiger Schritt getan worden, dessen vollständige Wirkung sich erst mittelfristig zeigen wird. Ein zentraler Aspekt für die Zukunft wird allerdings auch das Organizing sein. Insofern liegt es an den Arbeitnehmer*innen in Ostdeutschland selbst, ihren berechtigten Interessen in Hinblick auf einen gleichen Lohn für vergleichbare Tätigkeiten durch einen Gewerkschaftsbeitritt mehr Gewicht zu verleihen und dadurch dafür zu sorgen, dass die Angleichung des Rentenrechts schlussendlich zumindest nicht zu mehr Ungleichheit im Alter führt – denn nachdem die Angleichung des Rentenrechts nunmehr vollzogen ist, ist ein Schritt zurück in eine vielleicht sogar begründbare Ungleichbehandlung, wie es die Wiedereinführung der pauschalen Umwertung nach Anlage 10 SGB 6 wäre, nicht mehr vorstellbar.
Literatur
Bispinck, Reinhard, 2020: Tarifpolitik in Ostdeutschland 1990-2020: Ein Rückblick auf zentrale Entwicklungen, Konflikte und Ergebnisse. Elemente qualitativer Tarifpolitik No. 88. Hans-Böckler-Stiftung, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), Düsseldorf.
Hoenig, Ragnar, 2013: Wege zur Vereinheitlichung des Rentenrechts. Sozialer Fortschritt 7/2013: 188-195.
Jansen, Andreas, 2016: Der Stand der Lohnkonvergenz zwischen Ost- und Westdeutschland und damit einhergehende Konsequenzen für die Angleichung des Rentenrechts. IAQ-Forschung 2016-2.
Jansen, Andreas, 2017: Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland – Implikationen für die Angleichung des Rentenrechts. WSI-Mitteilungen 70 (4): 237-247.
Jansen, Andreas, 2021: Einheitliches Rentenrecht – ungleiche Renten? Zum Stand der Lohn- und Gehaltskonvergenz zwischen Ost- und Westdeutschland. IAQ-Report 2021-01.
Jansen, Andreas, 2024: Angleichung des Rentenrechts zwischen Ost- und Westdeutschland: Erfolgsstory oder Drama mit unbekanntem Ausgang? IAQ-Report 2024-08.
Schott, Josef, 2017: Die Ost-West-Rentenangleichung durch das Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz. Informationen der Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung in Bayern.
Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) aktuellste Fassung: Gesetzliche Rentenversicherung
Steffen, Johannes, 2015: Trotz großer Lohnkluft zwischen Ost und West – Rentenangleichung und Ende der „Hochwertung“ sind überfällig. Internetdokument.
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Autor
Dr. Andreas Jansen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsmarkt, Einkommen, neue Erwerbsformen sowie Alterssicherung und Altersübergang.